Verliebt in eine Gottin
die rosafarbene ausgesucht«, fuhr Ray fort, der offensichtlich merkte, dass sein Geschenk keine Begeisterung auslöste.
»Perfekt.« Shar schloss den Deckel der Schachtel wieder und versuchte, nicht ungerecht zu sein. Wenn sie für Ray mehr Leidenschaft aufbrächte, würde er vielleicht ihr gegenüber auch mehr Leidenschaft zeigen. Sie versuchte, sich Ray vorzustellen, wie er etwas mit Leidenschaft tat – nach der Bundeslade suchen, eine entführte Braut retten, einer Mutter zu Hilfe eilen -, aber sie konnte es nicht. Zu viel behäbiger Tweed um ihn herum. Natürlich konnte sie sich auch sich selbst nicht bei solchen Heldentaten vorstellen.
Sie schob die Schachtel auf dem Schreibtisch zur Seite, zusammen mit dem übrigen Zeug, das sie nicht interessierte – das grüne Abteilungsrundschreiben, ein gelbes Flugblatt, das für irgendeinen Hundeerziehungskurs warb, diverse Entschuldigungen ihrer Studenten dafür, dass sie ihre Arbeiten nicht termingerecht abliefern konnten, die Liste der Stellen, an denen sie versucht hatte, Literaturzitate für das verdammte Buch ihrer verdammten Großmutter zu finden …
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Ray.
Nein. Ich kann einfach nichts über diese verflixte mesopotamische Göttin finden, über die meine Großmutter geschrieben hat; ich schlafe mit einem Mann, der mir eine Elektroschockpistole schenkt, anstatt mit mir in eine Wohnung zu ziehen, und ich kann mich nicht mehr erinnern, wann mir zum letzten Mal etwas wichtig war außer meinem Hund . Shar massierte sich die Stirn. »Mir geht’s gut. Ich muss einfach ein paar Literaturquellen über diese Göttin finden, dann wird das Buch endlich fertig, und wenn das mal vom Tisch ist …«
Was dann? Die nächste Recherche? Die nächsten Arbeiten zu korrigieren? Die nächsten …
»Ich verstehe nicht, wieso du dich dafür überhaupt so engagierst.« Ray warf wieder einen Blick auf seine Uhr.
»Ich habe dir doch gesagt, dass meine Mutter ihrer Mutter versprochen hat, das Buch zu Ende zu bringen, und ich meiner Mutter versprochen habe, dass ich die Literaturzitate hinzufüge. Das ist so was wie ein Familienfluch. Die meisten Literaturquellen waren leicht zu finden, aber diese Kammani …«
»Deine Großmutter und deine Mutter sind tot«, erklärte Ray und schob seine Manschette über die Uhr. »Hör mal …«
»Ich finde nicht, dass mich das von meinem Versprechen entbindet«, entgegnete Shar. »Man nimmt doch sein Wort nicht einfach zurück, nur weil jemand stirbt .«
»Doch, wenn sie noch nicht mal einen Verleger haben«, versetzte Ray kurz. » Carpe diem , Shar.«
Du könntest nicht mal mit beiden Händen deinen diem carpen , dachte Shar und kippelte mit ihrem Stuhl zurück, so dass sie an die Decke starren konnte. Wäre sie in einer Filmszene, dann würde sie aufstehen und sagen: »Es ist aus zwischen uns, Ray«, und würde einen fantastischen Mann kennen lernen, der geradewegs durch ihre Bürotür hereinkäme und erklärte: »Ich bin auf der Suche nach einer intelligenten, reifen Frau mit einem Doktortitel in Assyriologie. Kommen Sie mit mir, weg von all dem …«
»Professor Summer?«
Shar ließ ihren Stuhl wieder nach vorn kippen, zurück in die Realität. Eine ihrer graduierten Studentinnen – die hübsche, immer langsame Leesa – stand mit einem Hallo-ich-möchte-Sie-um-etwas-bitten-Lächeln in der offenen Tür, kam dann näher und legte einige Blätter Papier auf den bereits überladenen Schreibtisch. »Hier ist der Entwurf, den Sie haben wollten, aber ich habe die Kapitel noch nicht. Könnte ich eventuell …«
»Nein, es gibt keine Verlängerung«, schnitt ihr Shar das Wort ab, ärgerlich über die plötzliche Unterbrechung ihres Filmheldentraums. »Ich habe Ihnen schon gesagt, dass Sie Ihr Thema zu breit gefasst haben. Schränken Sie es auf das ein, was Sie schon geschrieben haben …«
»Wie lautet Ihr Thema?«, fragte Ray, der lässig an der Wand lehnte, mit höchst professioneller Miene.
»Leidenschaft und Glück in der mesopotamischen Kultur«, antwortete Leesa.
»Sie könnten es vielleicht auf eine mesopotamische Kultur und einen Gedanken beschränken?«, schlug Ray vor. »Das Konzept des Glücks in der sumerischen Dichtung?«
»Das hat Professor Summer auch gesagt«, erwiderte Leesa. »Aber ich wollte mich nicht einschränken.«
»Beschränken«, verbesserte Shar und erkannte dann, dass Leesa sich wahrscheinlich auch nicht einschränken wollte, aber bevor sie noch ein »Na, egal«
Weitere Kostenlose Bücher