Verliebt in eine Gottin
hinterherschicken konnte, erschien ein dicklicher braunhaariger Student des ersten Semesters in der Tür und blickte sie unter gerunzelten Brauen hervor an.
»Professor Summer, Sie haben meinen Test versaut. Ich habe Hera als mesopotamische Göttin-Mutter hingeschrieben, und Sie haben das als Fehler angestrichen.«
Doug Essen. Na toll. Shar erwiderte: »Hera ist keine mesopotamische, sondern eine griechische Göttin.«
»Na ja, Griechenland ist doch da ums Eck, oder?«, entgegnete
Doug kriegerisch. »Sie könnte doch einfach nach nebenan gegangen sein und mit so’nem heißen mesopotamischen Gott’ne Nummer geschoben haben und is’ damit Göttin-Mutter geworden, oder?«
Das ist mein Leben , dachte Shar. Genau das habe ich mit achtundvierzig Jahren erreicht . Sie sah Doug an, und plötzlich sah er Ray zum Verwechseln ähnlich. Und Leesa. Ein verdammtes Schlagloch mehr auf ihrem staubigen Lebensweg.
»Ja, Doug«, erwiderte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Sie könnte auch siebenhundert Meilen nach Norden gegangen und am Euphrat nach rechts abgebogen sein und es mit dem gesamten Pantheon der alten Götter des Mittleren Ostens getrieben haben. Aber trotzdem wäre sie immer noch griechisch .«
»Das ist gemein«, beschwerte sich Doug und klang wie ein Dreijähriger. »Sie müssen mir noch eine Chance geben.«
Ray und Leesa beobachteten die Szene schweigend; es war entschieden an der Zeit, Doug loszuwerden. »Okay, schreiben Sie mir ein Recherche-Papier mit Fußnoten und Quellenhinweisen, aus denen hervorgeht, dass Hera eine mesopotamische Göttin-Mutter war, dann benote ich Ihre Arbeit neu.« Und viel Glück damit, denn Hera war eine griechische Göttin .
»Ein Recherche-Papier«, wiederholte Doug misstrauisch. »Wo kann ich das Zeug denn rauskriegen?«
»Ich würde es in der Bibliothek versuchen«, schlug Shar vor. »Bücher, nicht DVDs, vergessen Sie also Hercules von Disney. Wenn es bunt ist und sich bewegt und tolle Songs dabei sind, dürfen Sie das nicht für die Fußnoten verwenden.«
Doug blickte sie misstrauisch an, aber sie wahrte eine ausdruckslose Miene, und so runzelte er nur die Brauen und verschwand, um jemanden dafür zu bezahlen, dass er ihm ein Recherche-Papier schrieb.
»Herrjemine«, stieß Leesa hervor und blickte ihm nach. »Also, wegen der Verlängerung …«
»Nein«, fiel Shar ihr ins Wort.
Leesa überlegte. »Äh, na gut, hören Sie, sprechen wir später darüber. Ich äh … rufe Sie an.« Sie wich rückwärts aus dem Zimmer, wobei sie ihre rutschenden Bücher umklammerte, und als sie Ray zum Abschied winkte und verschwand, flatterte ein gelbes Flugblatt im Türrahmen zu Boden.
Ray hob es auf und legte es auf Shars Schreibtisch. »Das sieht dir gar nicht ähnlich.«
»Das sieht mir absolut ähnlich.« Shar schob sich von ihrem überfüllten Schreibtisch zurück. »Meinem wirklichen Ich, nicht der gutmütigen Tante. Ich hab das alles so satt. Das Buch und diesen Job …« … und dich …
»Was meinst du damit?«, fragte Ray. »Geht es dir gut?«
»Toll, mir geht’s einfach toll.« Shar ließ ihren Kopf auf den Schreibtisch sinken.
»Du hast deinen Job nicht satt, du liebst ihn. Tu bloß nichts Unüberlegtes, wie zum Beispiel kündigen. Du hast nur noch fünf Jahre bis zur Pensionierung. Und die gehen schnell vorüber. Die ersten fünfundzwanzig Jahre sind auch schnell vergangen, oder etwa nicht?«
Sie hob den Kopf und starrte ihn erschrocken an, aber das Problem lag nicht bei ihm. Es lag bei ihr. Sie richtete sich auf ihrem Stuhl auf und sah der Wahrheit ins Gesicht: Sie brauchte dringend eine Veränderung. Noch war es nicht zu spät, noch konnte sie sich befreien. Zugegeben, ihr Haar wurde schon grau, und sie ging auf die fünfzig zu, aber sie saß nicht in der Falle, sie konnte durchaus noch Leidenschaft und Glück auf dieser Welt finden. Sie konnte alles tun, was sie wollte, sie konnte sich sogar entschließen, nicht mehr länger nach Kammani Gula zu suchen. Dieser Gedanke weckte in ihr ein plötzliches, Schwindel erregendes Gefühl von Freiheit. Zur Hölle mit meiner Großmutter, und zur Hölle mit Kammani Gula. Niemand hat je von ihr gehört, und Großmama hat sie wahrscheinlich nur erfunden. Ich werde sie einfach herauslöschen …
»Lass deine Wechseljahrslaunen bloß nicht an mir aus«, sagte Ray.
Shar starrte ihn an, und es wurde ihr bewusst, dass sie, wenn sie Kammani Gula löschte, auch Ray löschen konnte. »Ich finde, wir sollten getrennte Wege
Weitere Kostenlose Bücher