Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
so absurden Vorschlag, dass Rai beinahe vom Stuhl gekippt wäre. Hätte ihm dieser merkwürdige Kauz vorgeschlagen, einen wohlhabenden Händler oder einen reichen Bürger auszunehmen, so hätte Rai wahrscheinlich abgelehnt. Denn die Lust auf derart große Unternehmen war ihm vergangen, seit er bei seiner letzten Verhaftung zu zwanzig Wochen Steineklopfen verurteilt worden war. Aber Barat plante etwas weit Größeres und Gefährlicheres, etwas, das noch nie jemand vorher gewagt hatte. Eben der Gedanke an den unermesslichen Ruhm wirkte bei Rai stärker als die Furcht vor einer harten Bestrafung. Der Reiz der Gefahr war ebenso verlockend wie die Beute, die Barat ihm in Aussicht stellte: Es sollten die Thronschätze aus dem Palast von Tuet sein.
Barat machte ihm tatsächlich den wahnwitzigen Vorschlag, in den Königspalast einzubrechen. Es hatte seinen Grund, warum es bisher noch niemand gewagt hatte, die Thronschätze zu rauben: Der Königspalast wurde von unzähligen Gardisten bewacht, und es gab kein Gebäude in Tilet, das mit dickeren Mauern oder schwereren Schlössern gesichert war. Doch selbst diese Überlegungen verblassten rasch wieder in Rais Kopf in Anbetracht des zu erwartenden Ruhmes. So willigte er schließlich ein.
Was Rai jedoch nicht wusste, war, dass er und Barat sich nicht zufällig in der Spelunke getroffen hatten, sondern dass Barat ihn sorgfältig für seinen Plan ausgewählt hatte. Aufgefallen war Barat der kleine Dieb das erste Mal bei einer harmlosen Straßenrauferei mit zwei anderen Gaunern, deren Zeuge Barat zufällig wurde. Die beiden wollten Rai offensichtlich seine Diebesbeute abnehmen, ein empört gackerndes und mit den Flügeln schlagendes Huhn, das dieser an den Beinen gepackt hielt. Obwohl seine Gegner in der Überzahl waren, gelang es Rai, die beiden auszutricksen, um sich samt Huhn mit einem beherzten Sprung durch ein offenes Fenster ins Innere eines Hauses zu retten. Begleitet von dem Gezeter der Bewohner, tauchte er bald darauf auf dem Dach desselben Gebäudes wieder auf und machte sich dann von Dach zu Dach springend davon. Seit jenem Tag folgte Barat ihm auf seinen Beutezügen durch die Stadt und studierte seine Gerissenheit und Körperbeherrschung. Schließlich war er überzeugt, dass er in Rai genau den Richtigen für den Einbruch in den Palast gefunden hatte. Und so kam es dann zu jener scheinbar zufälligen Begegnung beim Würfelspiel.
Barat hatte das Wagnis, die Thronschätze zu stehlen, natürlich weit besser bedacht als Rai. Er hatte behutsam sowohl die möglichen Folgen eines Erfolgs als auch die eines Scheiterns abgewogen. Dabei war er zu dem Schluss gekommen, dass im Falle eines Misserfolges in erster Linie Rai die Folgen zu tragen hätte. Schließlich wäre es der Junge, der den gefährlichen Einstieg in den Palast wagen würde, und daher wäre er auch derjenige, den die Wachen ergreifen würden, falls der Plan misslang. Bei einem Erfolg war Barat jedoch durchaus bereit, wie vereinbart mit Rai zu teilen. Denn die Reichtümer, die sie erbeuten würden, wären mehr, als beide in ihrem ganzen Leben auszugeben vermochten.
Die Idee zu seinem »Meisterstück der Diebeskunst« war Barat vor etwas mehr als einem Jahr gekommen, als er noch in der Palastküche als Tellerwäscher gearbeitet hatte. Dabei bekam er ausführlich Gelegenheit, die Gänge, Gemächer und Kammern des Palastes zu erforschen und auch einige der Reichtümer in Augenschein zu nehmen. Unter anderem wegen dieser neugierigen Aktivitäten und der Vernachlässigung seiner Pflichten setzte man ihn recht bald vor die Tür. Zutiefst in seinem Stolz verletzt, beschloss er, auf eine Art und Weise Rache zu nehmen, die dem Königshaus schaden und ihm selbst gleichzeitig Profit bringen sollte. So brütete sein Verstand jenen Plan aus, den er heute endlich zu verwirklichen gedachte.
Die Finsternis, die in dieser Nacht über Tilet hereingebrochen war, schien Barat und Rai wie für ihren Plan geschaffen, und so hatten sie sich zu der Gasse in der Nähe des Palastes geschlichen, von der sie einen letzten vorsichtigen Blick auf ihr Ziel riskierten.
Vor ihnen war der gewaltige Palast zu sehen, der im Widerschein der Fackeln von einem zuckenden Leben erfüllt zu sein schien. Die Fackeln, die dieses unruhige Lichterspiel hervorriefen, waren an der oberen Kante der etwa zwei Mann hohen Mauer in regelmäßigen Abständen befestigt. Die Wehrmauer lief in einem weiten Rechteck um den gesamten Palast. Die Front des Hauptgebäudes
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