Vermächtnis
Anthropologen Elman Rogers Service orientieren, der die menschlichen Gesellschaften nach zunehmender Bevölkerungszahl, politischer Zentralisierung und sozialer Schichtenbildung in vier Kategorien eingeteilt hat: Horde, Stamm, Häuptlingstum und Staat. Diese Begriffe sind zwar schon 50 Jahre alt, und seither wurden andere Termini vorgeschlagen, die Bezeichnungen von Service haben aber den Vorteil, dass sie einfach sind: Man muss nicht sieben, sondern nur vier Begriffe im Gedächtnis behalten, und es sind keine Bezeichnungen aus mehreren Wörtern, sondern nur einzelne Wörter. Man sollte aber immer daran denken, dass solche Begriffe nur nützliche Kurzbezeichnungen sind, mit denen man sich über die Vielfalt der menschlichen Gesellschaften unterhalten kann, ohne jedes Mal, wenn sie im Text vorkommen, wieder auf ihre Unvollkommenheiten hinweisen zu müssen.
Die kleinsten und einfachsten Gesellschaften (Service bezeichnet sie als
band
= Horde) bestehen nur aus wenigen Dutzend Personen, von denen viele zu einer oder mehreren Großfamilien gehören (beispielsweise ein erwachsener Ehemann mit seiner Frau, ihren Kindern sowie einigen Eltern, Geschwistern und Cousins oder Cousinen). Die meisten nomadisierenden Jäger und Sammler, aber auch manche Gartenbauern, lebten traditionell bei niedriger Bevölkerungsdichte in solchen kleinen Gruppen. Eine Horde hat so wenige Mitglieder, dass alle einander gut kennen; Gruppenentscheidungen können durch persönliche Gespräche getroffen werden, und es gibt weder eine formelle politische Führung noch eine starke wirtschaftliche Spezialisierung. Sozialwissenschaftler würden die Horde als relativ egalitär und demokratisch bezeichnen: Ihre Mitglieder unterscheiden sich kaum durch »Reichtum« (es gibt ohnehin nur wenige persönliche Habseligkeiten) und politische Macht, es sei denn aufgrund individuell unterschiedlicher Fähigkeiten oder Persönlichkeitseigenschaften; abgemildert werden die Unterschiede auch dadurch, dass die Mitglieder der Horde ihre Ressourcen in großem Umfang unter sich aufteilen.
Soweit wir aus archäologischen Befunden Rückschlüsse auf die Organisation früherer Gesellschaften ziehen können, lebten vermutlich alle Menschen bis vor wenigen zehntausend Jahren in solchen Horden, und für die meisten galt dies auch noch vor 11 000 Jahren. Als die Europäer sich – insbesondere nach Kolumbus’ erster Reise im Jahr 1492 – über die ganze Welt verbreiteten und auf nichteuropäische Völker trafen, die in nichtstaatlichen Gesellschaften lebten, besiedelten Horden immer noch ganz Australien und die Arktis oder große Teile davon, aber auch Wüsten- und Waldregionen mit geringer Produktivität in Amerika sowie im mittleren und südlichen Afrika. Hordengesellschaften, die in diesem Buch mehrfach vorkommen werden, sind unter anderem die !Kung in der afrikanischen Kalahariwüste, die Ache- und Siriono-Indianer Südamerikas, die Bewohner der Andamaneninseln im Golf von Bengalen, die Pygmäen in den Wäldern von Äquatorialafrika und die Gartenbau betreibenden Machiguenga-Indianer in Peru. Sie alle mit Ausnahme der Machiguenga sind oder waren Jäger und Sammler.
Horden gehen allmählich in den nächstgrößeren, komplizierteren Gesellschaftstyp über. Diese Gesellschaften werden von Service als Stämme bezeichnet und bestehen aus mehreren hundert Individuen. Damit befinden sie sich, was die Gruppengröße angeht, immer noch innerhalb des Bereichs, in dem jeder jeden anderen persönlich kennt und Fremde nicht existieren. Meine Highschool hatte beispielsweise 200 Schüler. Sie alle einschließlich der Lehrer kannten sich mit Namen, was in der Highschool meiner Frau mit Tausenden von Schülern nicht mehr möglich war. Eine Gesellschaft von einigen hundert Personen umfasst mehrere Dutzend Familien; diese gliedern sich häufig in Verwandtschaftsgruppen oder Clans, die unter Umständen Ehepartner mit anderen Clans austauschen. Da ein Stamm mehr Mitglieder hat als eine Horde, braucht er auch mehr Nahrung, um seine Menschen in einer kleinen Region zu ernähren; deshalb sind Stämme in der Regel Bauern und/oder Viehzüchter, es gibt unter ihnen aber auch Jäger und Sammler, die in einer besonders produktiven Umwelt leben (beispielsweise die Ainu in Japan oder die Indianer an der Pazifikküste im Nordwesten Nordamerikas). Stämme sind meist sesshaft und leben während des ganzen Jahres oder eines großen Teils davon in Dörfern, die sich in der Nähe ihrer Gärten,
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