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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Literatur zutreffend als Häuptlingstümer beschrieben, werden in diesem Buch aber wie in den meisten populärwissenschaftlichen Schriften »Stämme« genannt; dies gilt beispielsweise für die Indianer»stämme« im Osten Nordamerikas, die in Wirklichkeit Häuptlingstümer waren.)
    Eine wirtschaftliche Neuerung der Häuptlingstümer wird als Umverteilungs- oder Palastwirtschaft bezeichnet: Anstelle des einfachen, direkten Tauschhandels zwischen Einzelpersonen sammelt der Häuptling einen Tribut in Form von Lebensmitteln und Arbeitskraft ein, der zum größten Teil an Krieger, Priester und Handwerker verteilt wird, die dem Häuptling dienen. Die Umverteilung ist also die älteste Form eines Steuersystems, mit dem neue Institutionen finanziert werden. Ein Teil der Lebensmitteltribute fließt an die gemeinen Bürger zurück, denn der Häuptling ist moralisch verpflichtet, sie in Hungerzeiten zu unterstützen, und sie arbeiten beispielsweise an der Konstruktion von Bauwerken und Bewässerungssystemen für den Häuptling. Neben diesen politischen und wirtschaftlichen Neuerungen, die über die Praktiken der Horden und Stämme hinausgingen, entwickelte sich in den Häuptlingstümern auch erstmals die soziale Neuerung einer institutionalisierten Ungleichheit. Getrennte Abstammungslinien gab es zwar auch schon in manchen Stämmen, im Häuptlingstum jedoch bilden sie erbliche Ränge: An der Spitze stehen der Häuptling und seine Familie, ganz unten die gemeinen Untertanen oder Sklaven, und dazwischen (im Fall der Polynesier auf Hawaii) bis zu acht Kasten unterschiedlichen Ranges. Den Angehörigen der höheren Abstammungslinien oder Kasten ermöglichte der vom Häuptling eingetriebene Tribut ein besseres Leben, was Nahrung, Wohnung sowie besondere Kleidungs- und Schmuckstücke anging.
    Häuptlingstümer vergangener Zeiten erkennt man deshalb archäologisch (manchmal) an Monumentalbauwerken sowie an Anhaltspunkten wie einer ungleichen Verteilung der Grabbeigaben auf Friedhöfen: Manche Toten (Häuptlinge sowie ihre Angehörigen und Bürokraten) wurden in großen Grabstätten beigesetzt, die im Gegensatz zu den schmucklosen Gräbern der gemeinen Untertanen mit Luxusgegenständen wie Türkisen oder geopferten Pferden angefüllt waren. Aus solchen Indizien ziehen Archäologen den Schluss, dass Häuptlingstümer sich lokal ungefähr seit 5500  v.Chr. entwickelten. In der Neuzeit, unmittelbar bevor auf der ganzen Welt nahezu allgemein die Autorität von Staatsregierungen eingeführt wurde, waren Häuptlingstümer in Polynesien, großen Teilen des mittleren und südlichen Afrika, den produktiven Regionen im Osten und Südwesten Nordamerikas, in Mittelamerika sowie in Südamerika außerhalb der Staaten im heutigen Mexiko und in den Anden weit verbreitet. Zu den Häuptlingstümern, die in diesem Buch erörtert werden, gehören die Bewohner der Mailu- und Trobriandinseln in der Region Neuguinea sowie die Calusa- und Chumash-Indianer Nordamerikas. Aus den Häuptlingstümern entwickelten sich (ungefähr seit 3400  v.Chr.) durch Eroberung oder erzwungene Verschmelzung die ersten Staaten; die Folgen waren eine größere, oftmals ethnisch gemischte Bevölkerung, spezialisierte Zuständigkeitsbereiche und Hierarchieebenen von Bürokraten, stehende Armeen, eine viel größere wirtschaftliche Spezialisierung, die Entstehung von Städten und andere Veränderungen bis hin zu den verschiedenartigen Gesellschaften unserer modernen Welt.
    Könnten Sozialwissenschaftler sich mit Hilfe einer Zeitmaschine einen Überblick über die Welt zu einem beliebigen Zeitpunkt vor ungefähr 9000  v.Chr. verschaffen, so würden sie überall Menschen finden, die sich ihren Lebensunterhalt als Jäger und Sammler sicherten; sie lebten in Horden und möglicherweise manchmal bereits in Stämmen, aber es gab weder Metallwerkzeuge noch eine Schrift, Zentralregierungen oder wirtschaftliche Spezialisierung. Wären die Sozialwissenschaftler dann im 15 . Jahrhundert wiedergekommen, als die Verbreitung der Europäer auf andere Kontinente gerade am Anfang stand, hätten sie festgestellt, dass Australien als einziger Kontinent noch ausschließlich von Jägern und Sammlern besiedelt war, die meist in Horden und in manchen Fällen möglicherweise in Stämmen lebten. Der größte Teil Eurasiens, der Norden Afrikas, die größten Inseln im Westen Indonesiens, große Teile der Anden sowie Teile von Mexiko und Westafrika waren hingegen bereits von Staaten besetzt. Zahlreiche

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