Elea: Die Träne des Drachen (Band 1) (German Edition)
Prolog
Es ist dunkel. Aber es herrscht keine vollkommene Finsternis. Riesig große Schatten strecken sich über ihn weit in die Höhe empor. Eine angenehme Kühle streichelt seinen Körper. Der Boden ist weich und uneben. Er setzt unsicher einen Fuß vor den anderen, weiß aber nicht so recht, in welche Richtung er gehen soll. Er dreht sich orientierungslos im Kreis und setzt dabei mal einen Fuß in diese, mal einen Fuß in jene Richtung. Plötzlich nimmt er einen vertrauten Geruch wahr. Es riecht nach feuchter Erde, nach Holz, nach Harz. Und mit einem Mal sieht er, wie die dunklen Schatten allmählich die Gestalt von Bäumen annehmen. Er steht in einem Wald.
Sein Gehör fängt nun endlich auch an zu arbeiten. Der Wind rauscht in den Bäumen, Blätter rascheln, Holz knackt. Auch andere Geräusche, die von Lebewesen, dringen in seine Ohren: Ein Specht hämmert Löcher in die Baumrinde. Vögel singen ihr Lied. Aber da sind noch viel, viel leisere Geräusche, die von den anderen übertönt werden und die er erst hört, wenn er die lauten ausblendet. Das Schnüffeln von Wildschweinen, die mit ihrem Rüssel in der Erde nach essbaren Wurzeln und Insekten wühlen. Ein Eichhörnchen, wie es eine Eichel knackt. Das Streifen eines Rudels Hirsche und Rehe durch den Wald...
Er fühlt sich wohl in diesem schattigen Halbdunkeln. Es kommt ihm alles so vertraut vor: Es ist sein Zuhause. Er schließt seine Augen und nimmt mit all seinen Sinnen die auf ihn einströmenden Reize, wie ausgehungert, in sich auf. So steht er eine Weile bewegungslos da und spürt, wie sich in seinem Innern ein Gefühl der Geborgenheit und Wärme entfaltet. Er glaubt sogar, so etwas wie Glück zu empfinden. Doch urplötzlich bemerkt er eine Veränderung, die in ihm all die schönen Empfindungen auslöscht und einer bodenlosen Angst Platz macht. Ihm wird kalt, unerträglich kalt. Nur zögernd öffnet er die Augen. Es ist Nacht und ein Halbmond taucht seine Umgebung in silbrig-weißes Licht ein. Er befindet sich jetzt an einem anderen Ort – nicht mehr im Wald. Kein Baum ist weit und breit zu sehen – rein gar nichts. Hier herrscht Totenstille. Diese wird mit einem Mal von einem markerschütternden Schrei durchbrochen, der ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt. Es ist der Schrei einer Frau. Unwillkürlich rennt er los. Er will es eigentlich nicht, im Gegenteil, er sträubt sich sogar. Denn eine innere Stimme verbietet es ihm. Doch in ihm wächst noch etwas anderes unaufhaltsam heran: etwas Düsteres, etwas Beklemmendes, eine dunkle Kraft, die ihn zum Rennen zwingt. Er rennt und rennt ohne zu wissen wohin und wie lange, als mit einem Mal das weiße Mondlicht von einem orangeroten Glühen verschluckt wird. Mit keuchendem Atem muss er jäh stehenbleiben, weil das Ufer eines Gewässers vor ihm auftaucht. Es ist ein kleiner See. Und hinter dem See erstreckt sich ein Wald, der lichterloh in Flammen steht. Das pulsierende Glühen des Feuers breitet sich immer mehr aus. Gleichzeitig drängt ihn die in seinem Innern schwelende, dunkle Kraft, sich dem See zu nähern. Als er auf die Wasseroberfläche blickt, sieht er einen kleinen Jungen von vielleicht sechs Jahren sich darin spiegeln. Er hat dunkles, halblanges Haar und blasse Haut. Mit einem Mal verändert sich das Wasser. Es wird unruhig, beginnt kleine Wellen zu schlagen und nimmt eine dunkle, fast schwarze Farbe an. Eine Hand durchbricht die Oberfläche und streckt sich langsam nach ihm aus, als wollte sie ihn greifen. Mit angehaltenem Atem erkennt er rote Schlieren, die an dem ausgestreckten Arm hinunterlaufen. Es ist Blut. Er will schreien. Doch es ist zu spät. Sein Schrei geht im See voller Blut unter, weil die Hand ihn längst am Fuß gepackt und ihn mit in die Tiefe gezogen hat...
Er saß mit nacktem, schweißgebadetem Oberkörper auf seinem Bett. Seine Hände lagen zitternd auf seinen Oberschenkeln und sein Atem suchte sich stoßweise seinen Weg aus dem Mund. Er spürte deutlich das Gewicht des Ringes um seinen Hals, der wie eine kurze Kette schwer auf seinen Schlüsselbeinen ruhte und wie immer unmittelbar nach seinen Albträumen eine unerklärliche Kälte ausstrahlte. Dunkelheit lag noch über dem Schloss. Doch die Morgendämmerung war nicht mehr fern, da die Amseln schon ihr Lied sangen, um den Tag zu begrüßen.
Sein Blick ruhte auf seinen zitternden Händen. Nur der Sternenhimmel warf durch das geöffnete Fenster schwaches Licht in das karg ausgestattete Zimmer. Wenn nicht ein
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