Verruchte Begierde: Roman (German Edition)
Witwe zu befragen. Aber wenn es nötig wäre, würde er es tun, und er würde mit geladener Waffe in diese Vernehmung gehen. Er musste seine Arbeit tun und würde sich von nichts und niemand daran hindern lassen, sie so gut zu machen, wie es möglich war.
Bis zur offiziellen Wahl des Nachfolgers von Silas Barnes war er der oberste geschäftsführende Staatsanwalt der Stadt und des Bezirks. Und er musste glänzen, wenn er diesen Job auf Dauer haben wollte, denn die Steuerzahler würden ganz genau verfolgen, was er tat. Vor allem galt es, außer seinem eigenen Ehrgeiz immer auch dem Recht zu dienen. Richtig? Ganz genau.
Weshalb fühlte er sich dann so hundeelend? Weshalb hatte er nicht den gewohnten Drang, der Wahrheit auf den Grund zu gehen? Was war mit seinem Eifer, die Leben der Wynnes auseinanderzunehmen, bis nichts davon
mehr im Verborgenen lag? Weshalb hatte er stattdessen das Verlangen, Kari Stewart Wynne vor allen zu beschützen? Sogar vor ihm selbst?
Er trat ans Fenster seiner Wohnung, zog die Jalousien hoch und starrte auf die nächtliche Skyline der Stadt. Was machte sie wohl heute Abend? Trug sie noch immer das schwarze Kleid? Waren ihre blonden Haare noch immer in dem straffen Knoten eingezwängt? Ob jemand bei ihr war? Jemand, der sie tröstete und in den Armen hielt?
Das Gefühl, das er herunterschlucken musste, war so bitter wie sein Bier. Es war reine Eifersucht.
Der erste Tag wäre der Schlimmste, wusste sie. Also würde sie am besten die Zähne zusammenbeißen und ihn hinter sich bringen. Wenn sie die anderen doch nicht nur so voller Mitleid ansehen würden. Sie am besten überhaupt nicht ansehen würden. Die unpersönlichen Augen der Video- und Studiokameras würde sie aushalten. Es waren die Augen der Menschen, deren Blicke sie ganz einfach nicht ertrug.
Bonnie winkte ihr von ihrem Platz aus zu und reckte die Daumen in die Luft. Kari ging den Flur hinab in das Rückgebäude und ließ sich davon trösten, wie vertraut ihr die Umgebung war.
Abgesehen vom Personal änderte sich im Redaktionsraum nie etwas. Die Reihe von Monitoren, die unter der Decke hingen, damit man sie von überall aus sah, strahlten verschiedene Programme aus. Die drei größten nationalen Sender boten momentan ein erhitztes Paar, das sich in einer Seifenoper stritt, den aufgewühlten
Gewinner einer Spielshow sowie eine gereizte Hausfrau, die über die Flecken in ihrer Wäsche lamentierte, an. Zwei private Lokalsender brachten dreißig Jahre alte Situationskomödien, auf einem anderen Monitor lief der Börsenbericht, und der letzte Bildschirm, der im Augenblick nicht eingeschaltet war, übertrug aus ihrem eigenen Studio.
Eine Wolke aus Zigarettenrauch hing über den Schreibtischen. In einer Ecke fand gerade ein Wettbewerb im Papierkügelchen-Schießen statt. Die Konkurrenten waren gelangweilte Cutter, die darauf warteten, dass die Reporter mit Videos und Skripten zurückkamen und es Arbeit für sie gab. Der Produzent der Sechs-Uhr-Nachrichten ließ sich einem mitfühlenden Zuhörer gegenüber lautstark über seine Ex-Frau aus. Ständig klingelten irgendwelche Telefone, und Nachrichtendienste schickten ihnen Geschichten aus aller Welt ins Haus.
Da Pinkie nicht an seinem Schreibtisch saß, bahnte sich Kari einen Weg zu ihrem eigenen Tisch, der hinter zwei Meter hohen Stellwänden verborgen war. Auf dem Schreibtisch lag ein großer Haufen Post. Sie sah sie eilig durch, zog Geschäftsbriefe hervor, legte einen extra Stapel mit den Beileidsschreiben an, und eine Stunde später hatte sie von all den Danksagungen, die sie hatte schreiben müssen, einen Krampf in ihrer rechten Hand.
Gerade, als die letzte Karte fertig war, hörte sie, wie Pinkie eine seiner typischen Beleidigungen schrie. Sie stand auf und sah, dass er vor seinen Schreibtisch trat und einen ganzen Schwall von Schimpfworten auf Sally
Jenkins und den Studioleiter, die ihm zögernd folgten, niedergehen ließ. Seine Zigarette war heruntergebrannt, doch das nahm er gar nicht wahr, als er sie von einer Seite seines Mundes auf die andere wandern ließ. Sein schütteres Haar stand wirr in alle Richtungen um seinen Kopf.
Dann entdeckte er plötzlich Kari, brach seine Tirade ab, schob die anderen unsanft an die Seite und stürzte auf sie zu. »Gott sei Dank, dass du wieder da bist. Ich verliere hier allmählich den Verstand.« Er umarmte sie und wandte sich den anderen beiden zu. »Also, habt ihr nichts zu tun?«, brüllte er sie an. »Macht euch gefälligst wieder
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