Verrückte Lust.
geklebt, denn er rannte. Eine mit Sensen und Schrotflinten bewaffnete Menge verfolgte ihn. Während er rannte, rückten die Mauern immer enger zusammen. Am Ende der Straße war nur ein schmaler Streifen Licht, als wäre dort ein Vorhang nicht ganz geschlossen. Das Licht wurde schwächer und schwächer. Er mußte sich zur Seite drehen und zwischen den Mauern hindurchzwängen. Sie scheuerten ihm die Schienbeine auf. Ein Schuß ertönte, und dann noch einer, und noch einer… eine ganze Salve. Die Kugeln klatschten über seinem Kopf an die Wände, schlugen quer und fielen ihm wie Sterne vor die Füße. Man schrie: »Halt! Halt!«, doch er wand sich weiter, stolperte, duckte sich, scheuerte sich Ellbogen und Schienbeine auf. Plötzlich wichen die Mauern zurück wie automatische Türen, und der Himmel leuchtete in einem gewaltigen, blendenden Licht. »Gerettet! Gerettet!« rief er. Doch vor ihm stand eine Abteilung Fußsoldaten in schimmernder Rüstung und versperrte ihm mit langen, spitzen, vorgereckten Speeren den Weg. Hinter ihm näherte sich schreiend und fluchend die bewaffnete Menge. Er konnte die Sensen an den Mauern klirren hören, fast den Atem seiner Verfolger im Nacken spüren. Es überkam ihn eine so große Angst, daß er gelähmt war, im Boden verwurzelt. Zaghaft versuchte er die Hände zu heben. »Seht doch… seht doch«, murmelte er schwach, »ich ergebe mich.« Einen Augenblick lang herrschte tiefe, ohrenbetäubende Stille. Dann schritten die Männer mit den riesigen, vorgereckten Speeren voran, steif wie Automaten. Als sie ihn fast erreicht hatten, blieben sie stehen. Langsam holten sie mit ihren gewaltigen, gepanzerten Armen aus. »Ich gebe auf! Ich gebe auf!« rief er verzweifelt, und als die Worte aus seinem Mund kamen – vielleicht wurden sie ja nie gehört –, fiel ein den Himmel verdunkelnder Regen, ein spitzer, grausamer Regen von Speeren, die sich tief und bebend in ihn bohrten. »O Gott, sie haben mich umgebracht!« schrie er.
Als er die Augen aufschlug, beugte sich Hildred, ein Handtuch in der Hand, über ihn. Sie sah so sanft und traurig aus. In ihren Augen standen Tränen. »Was ist?« fragte er, und dann sah er, daß das Handtuch voller Blut war.
Beim Frühstück erzählte er ihnen, was passiert war. Sie sahen ihn ungläubig an. »Ach, was solls!« sagte er. »Was glaubt ihr denn, was passiert ist?« Seltsam, der Blick, mit dem sie ihn bedachten. Hildred sah mitgenommen und niedergeschlagen aus. Vanya hatte ihr sarkastisches Lächeln aufgesetzt.
»Meint ihr vielleicht, ich hätte mich umbringen wollen?«
Vanya lächelte immer noch. »Du hast es versucht«, schien ihr Lächeln zu sagen, »aber du hattest nicht den Mumm, es wirklich zu tun.«
Er sah auf seinen Teller. Es gab keine Dramen mehr, nur noch Enttäuschungen. Er enttäuschte sie. Er war kein Romantiker, wie Vanya sich auszudrücken pflegte. Ein Mann, der sich nicht umbringen ließ, wenn er doch allen Grund hatte zu sterben, war eine Enttäuschung. Ein solcher Mann würde auch dann noch weiterleben, wenn man seine Füße in der Rasenfläche vergrub. Er würde weiterleben, weil er nicht genug Grips hatte, um zu sterben. Dazu brauchte man nicht Mumm, sondern Phantasie. Er lebte das Leben eines Amputierten. Man hatte ihm die Phantasie weggeschnitten. Und ohne Phantasie konnte ein Mann ewig weiterleben, auch wenn er gar kein Mann mehr war, auch wenn man ihm Arme und Beine genommen hatte – solange nur ein paar Stücke von ihm übrig waren, die man zusammenflicken und in einen Rollstuhl setzen konnte.
5
Es sieht aus wie in einem Spielzeuggeschäft, das gerade geplündert worden ist. Arme und Beine liegen herum, Ungeheuer in Samtjacketts, Neros mit grünen Perücken, hingestreckt wie betrunkene Matrosen. Überproduktion. Arbeitslosigkeit. Alle ausgeflogen, um Essen, Zigaretten, Feuerholz aufzutreiben. Hildred ist traurigverzagt und geht oft ins Kino, wo sie im Dunkeln sitzt und ihren Gedanken nachhängt. Niemand weiß, wann die beiden nach Hause kommen. Aber um Mitternacht findet man sie mit Sicherheit im Cafe am Sheridan Square, in der Bude, wo Willie Hyslop und seine Kumpane sich früher zu treffen pflegten, wo sie sich natürlich immer noch treffen, wenn auch nicht so oft und gutgelaunt wie ehedem. Hier bei »Lorber's« also versuchen Hildred und Vanya nach Mitternacht noch jemanden aufzutreiben, der ein bißchen Kleingeld springen läßt. Dieselbe alte Meute: Toots und Ebba, Ilias und ihre Mutter, maskuline Lesben,
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