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Verschleppt

Verschleppt

Titel: Verschleppt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verhoef & Escober
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sicherzustellen. Der barbarische Schmerz würde ihm möglicherweise erneut das Bewusstsein rauben, und das könnte seinen Tod bedeuten. Seinen Tod und auch den seines Bruders.
    Wenn Maier zurückkehrte, kam Wadim hoffentlich nahe genug an ihn heran, um ihn auszuschalten. Das Messer, das er sich ums Bein gebunden hatte, war beim Unfall verrutscht und hatte ihm das Schienbein filetiert. Wadim krempelte das zerrissene Hosenbein hoch, zog das Messer aus dem Klettverschluss heraus und legte es neben sich auf den Boden. Wenn es sein musste, wenn es doch noch zum Kampf kam, konnte er Maier damit außer Gefecht setzen.
    Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit ganz auf Juri, der noch nicht wieder bei Bewusstsein war. Alles andere trat vorübergehend in den Hintergrund.
    Sein Bruder war sein Ein und Alles. Sie waren vierzig Jahre alt und in all den Jahren keinen Tag voneinander getrennt gewesen. Juri durfte nicht sterben. Es durfte einfach nicht sein. Sie hatten zusammen so viele Schläge eingesteckt, erst bei der Armee, später dann bei der Speznas, der Spezialeinheit des russischen Nachrichtendienstes. Und erst recht in den letzten Jahren, in denen sie für die Organisation verschiedene düstere Angelegenheiten erledigt und dabei beträchtlich Kohle gemacht hatten. Sie hatten sich durchaus öfter Verwundungen zugezogen. Und sich immer davon erholt.
    Immer.
    Juri atmete schwach, und bei jedem Ausatmen quoll frisches Blut über das raue Fleisch, das einmal seine Lippen gewesen waren. Wadim hatte oft genug Männer sterben sehen, Auge in Auge, um zu wissen, dass auch Juri jetzt ein Sterbender war. Er wusste das nicht nur aus Erfahrung, vielmehr spürte er es ganz körperlich, bis in die Tiefen seiner Seele. Ein intensiver Schmerz, der seine eigenen Verletzungen überlagerte.
    Es war, als müsste er selbst sterben.
    Er zog Juri halb zu sich auf den Schoß, wiegte ihn in den Armen und streichelte ihm den blutigen Kopf, fuhr mit seinen wunden Fingerspitzen über die Kante der gebrochenen Augenhöhle und flüsterte ihm auf Russisch leise ein paar Worte zu, die nur Juri verstehen konnte. Unaufhörlich zitterten Wadim die Beine, schlugen seine Zähne aufeinander. Er biss sich so lange auf die Lippe, bis er Blut schmeckte. Sein Blick wurde trübe.
    Das anschwellende Dröhnen eines schweren Dieselmotors nahm sein von Trauer und Schmerz betäubter Verstand zunächst kaum wahr. Von dem Versteck aus beobachtete er, wie der Land Cruiser zurückkehrte. Mechanisch griff er nach dem Messer und blieb regungslos sitzen.
    Die Zielperson wendete den Geländewagen so, dass der Frontschutzbügel die Stoßstange des Peugeots berührte. Schob dann den Mietwagen Zentimeter für Zentimeter auf den Abgrund zu.
    Das Arschloch ist zurückgekommen, um die Sache zu Ende zu bringen.
    Das reißende Metall der Leitplanke gab ein bedrohliches Knarren von sich und wurde schließlich zur Seite gebogen. Der Peugeot stürzte in die Tiefe.
    Langsam tickten die Sekunden dahin. Wadim hörte außer dem laufenden Motor des Land Cruisers nur sein eigenes Blut in den Adern rauschen – bis endlich der Wagen unten auf die Felsen schlug, Hunderte von Metern tiefer. Der Lärm von zersplitterndem Glas und durch die Gegend geschleuderten Plastikteilen hallte durch das rote Tal.
    Zitternd vor Schmerz, Ohnmacht und Wut sah er zu, wie Maier unversehrt aus seinem Geländewagen ausstieg und über den Rand des Abgrunds in die Tiefe spähte. Dann verschwand er unter seinem Toyota, schnitt den Sender ab und schleuderte ihn in hohem Bogen in die Schlucht.
    Bebend saß Wadim da, leicht benommen, den klebrigen Kopf seines Bruders in den Armen, gelähmt von dem Bewusstsein, dass er nichts für ihn tun konnte. Mit finsterem Blick sah er Maier in den Land Cruiser einsteigen und in aller Ruhe wegfahren. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er noch nie jemanden so gehasst hatte wie diesen Mann.
    Wadim klammerte sich an seinen Bruder, als könnte er ihn dadurch bei sich halten, sein Abgleiten in die ewige Dunkelheit verhindern. Er streichelte ihm die Wangen und das Haar, beugte sich dann ganz nah an das Gesicht des Sterbenden und gab im Flüsterton ein Versprechen ab.
     

1
     
    Auf den ersten Blick sah alles aus wie immer.
    In Susans beengter Innenstadtwohnung waren noch dieselben Kiefernholzdielen, vor dem vertrauten Zweisitzer lag derselbe blaue Teppich. Neben der Tür zu dem kleinen Flur hingen das Bild von ein paar Koikarpfen und die Vergrößerung einer Strandaufnahme aus dem

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