Verschleppt
prickelnde Bergluft war aus den Alpen über die Münchner Altstadt und die Außenbezirke hinweggeströmt, hatte die letzten welken Blätter von den Bäumen gerissen und den Winter eingeläutet. Ein hellblauer Himmel, von wenigen, in luftigen Höhen eingezogenen, dünnen Nebelschleiern abgesehen, die von den Strahlen der blassen Wintersonne mühelos durchdrungen wurden.
Seit heute Morgen jedoch hatte die Sonne sich nicht mehr blicken lassen. Schneeflocken rieselten nun herab wie federleichte Baumwollfetzen, wirbelten lautlos und anmutig umeinander, bis sie den Boden berührten und sich vereinigten, zu einem weißen Teppich verschmolzen, der alles Grau unter sich bedeckte.
Maier starrte regungslos vor sich hin. Er umklammerte die Krücken, auf die er sich stützte.
Der eine Unterschenkel steckte noch im Gips. Auf Knöchel-und Kniehöhe ragten Metallstifte heraus. Eigentlich sollte er noch wöchentlich zur Reha gehen, aber in den vergangenen Wochen hatte er sich in dem Brabanter Krankenhaus nicht mehr blicken lassen.
Es hatte wichtigere Dinge gegeben als ein heilendes Bein.
Mit der Gummispitze seine Krücke kratzte er an der Schneeschicht, die sich auf dem länglichen Stein zu seinen Füßen gebildet hatte, zog vorsichtig kleine Furchen und schob das watteartige Nass ein wenig zur Seite. Allmählich wurde der Text, der mit äußerster Präzision in den kostbaren Granit eingraviert war, wieder lesbar.
MARIA MAIER
MÜNCHEN 1948 – MÜNCHEN 1977
&
SILVESTER HAROLD FLINT
PHOENIX 1948 – PUYLOUBIER 2004
Seit dem Begräbnis in der vergangenen Woche kam er täglich hierher, vor allem, weil ihm sonst kein Ort geblieben war. Kein Ort, wo er Ruhe finden konnte, sich zu Hause fühlen durfte, wo er willkommen war oder zumindest gern gesehen. Der Flecken Erde, der sich hier zu seinen Füßen erstreckte, auf dem Nordfriedhof, einen Steinwurf vom Hasenbergl entfernt, dem hässlichsten Wohnviertel von ganz Europa, kam dem noch am nächsten. Das war sein Viertel. Hier war er zur Welt gekommen, und hier lagen nun seine Eltern – jene beiden Menschen, die am Anfang seines Lebens gestanden hatten.
Zwei ganz normale Menschen, die Fehler gemacht hatten.
Fehler und ein Kind.
Der glatte Stein wurde langsam wieder zugeschneit. Er schloss die Hände fester um seine Krücken, legte den Kopf in den Nacken und schaute den Schneeflocken zu. Es waren Millionen, Milliarden, und sie wirbelten und tanzten in Unmengen hernieder, still und friedlich. Sie wussten genau, wo sie hinmussten, dachte Maier, denn sie hatten keine Wahl, sie fielen einfach, immer weiter und tiefer, schwebend, taumelnd, bis sie ihr Ziel erreicht hatten und schmolzen, aufhörten zu existieren.
Vielleicht hatten sie darum keine Eile. Nach ihnen kamen wieder neue Flocken und danach wieder, immer wieder neue, mit jedem neuen Winter, die die alten vergessen ließen.
Er versetzte die Krücken, drehte sich um, schob sein heiles Bein vor und machte sich wieder auf den Weg, zurück zum Eingang.
In der Ferne sah er jemanden am Tor stehen. Eine Silhouette, leicht vorgebeugt, die sich von der weißen Welt dunkel abhob. Wahrscheinlich jemand, der auf ein Taxi wartete, so sah es zumindest aus, eine Gestalt, die still vor sich hin schaute, den Kopf unter einer großen, mit Pelz besetzten Kapuze. Er bemerkte sie und machte sich keine weiteren Gedanken.
Er konzentrierte sich darauf, die Krücken so auf dem Boden aufzusetzen, dass sie nicht unter ihm wegglitten, wenn er sich mit seinem Gewicht auf sie stützte. Bei jedem Schritt drückten seine Wanderschuhe den frischen Schnee knirschend zusammen und hinterließen deutliche, tiefe Abdrücke.
Er hatte den Eingang nun fast erreicht. Zum Taxistand war es von dort aus nicht mehr weit.
Die Gestalt löste sich von der Mauer am Tor und kam auf ihn zu. Sie versperrte ihm den Weg, blieb genau vor ihm stehen, die Füße fest im Schnee, die dunklen Augen warm und hell im blassen, von der Kälte geröteten Gesicht.
Er hielt inne. Presste die Lippen aufeinander und konnte kaum glauben, was seine Sinne ihm signalisierten. Er blickte um sich, schaute dann wieder auf die Gestalt.
Sie war noch da, und sie sah ihn forschend an. »Man hat mir gesagt, hier würde ich dich schon finden.«
»Es ist kein anderer Ort mehr übrig, Susan.«
»Das weiß ich.« Sie trat neben ihn und schob ihren Arm unter den seinen. »Komm.«
Dank
Folgenden Menschen schulden die Autoren Dank für ihre Hilfe. Ohne sie wäre Verschleppt weniger lebendig
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