Verschleppt
selbst oft erzählte. Seit dem Augenblick, als sie Lilly kennengelernt hatte, verstand Sara, was mit britischem Understatement gemeint war. Wenn sie sagte, sie habe ein kleines Problem, dann ging es um einen gigantischen Tsunami an Schwierigkeiten und wenn sie einen leichten Appetit verspürte, bedeutete das soviel wie, dass sie gleich verhungerte. Sara überlegte häufig, ob sie Lilly vielleicht davon abraten sollte, diesen Job weiter zu machen, damit sie nicht so endete wie sie. Aber das war gerade wieder einmal nur ein Gedanke von vielen, der Sara durch den Kopf schoss.
Sie waren in der Innenstadt von San Diego angekommen, die erstaunlich klein war. Wahrscheinlich handelt es sich um die einzige Metropole des Landes, in der ein halbwegs gesunder Mensch problemlos vom Flughafen in die Innenstadt spazieren kann. Sara setzte den Blinker und fuhr auf den Parkplatz des Krankenhauses und schaltete den Motor aus. Von weitem hatte sie schon das leuchtende Schild „Hospital“ gelesen und sofort beschlich sie ein ungutes Gefühl. Der Parkplatz war leer, so dass Sara unmittelbar vor dem Eingang parkte. Mittlerweile war der Abend in San Diego eingekehrt und die Dämmerung lag wie ein blasser Streifen am Horizont. Sie stiegen aus und das dunkel wirkende Gebäude lag vor ihnen. Es herrschten immer noch angenehme Temperaturen, trotzdem zog sich Sara ihre Jacke über. Die drei gingen Richtung Eingang. Eine weinende Frau kam ihnen entgegen, die versuchte, ihre Tränen mit einem Taschentuch zu trocknen. Alle schwiegen. Cruz und Lilly blickten auf den Boden, Sara schaute die Frau betreten an. Sie musste schon viele dieser Gespräche mit Eltern führen, deren Kinder verschwunden waren. Ihr graute jedes Mal davor.
Kapitel 4
Sie traten durch die große Drehtür und standen in der sterilen Eingangshalle. Sara nahm sofort den typischen Krankenhausgeruch wahr, den sie so hasste. Neben dem Eingang befand sich ein kleiner Kiosk, in dem in diesem Moment eine Frau mit Blumen heraustrat, die ein quengelndes Kind hinter sich herzog. Geradeaus war die Notaufnahme, auf der Tür stand fett: Zutritt nur für Krankenhauspersonal! Ein Arzt eilte gerade durch die Tür. Links ging es zu den Fahrstühlen, rechts war der Empfang, daneben stand eine Reihe von Münztelefonen. „Wie heißt die Mutter eigentlich?“, erkundigte sich Sara. „Amanda Gore, 39 Jahre alt, Lehrerin an der städtischen Grundschule, unterrichtet die Fächer Englisch, Geographie und Geschichte, Vorsitzende des Elternbeirates, Vertrauenslehrerin und Mitglied im La Jolla Beach und Tennis Club“, Lilly las von ihrem Notizblock ab. Sara und Cruz schauten sie verdutzt an. „Danke, Lilly“, Sara lächelte. „Ich habe in der Schule angerufen“, sagte Lilly, als müsste sie sich rechtfertigen. „Gute Arbeit, Kleines“, Cruz schlug ihr kumpelhaft auf die Schulter, so dass sie fast das Gleichgewicht verlor.
Sara ging zum Empfang, sie konnte niemanden sehen. „Hallo? Kann mir mal hier jemand Auskunft geben?“ Sara trommelte nervös mit ihren Fingern auf dem Tresen, sie war kein geduldiger Mensch. Plötzlich richtete sich eine ältere Dame hinter dem Tresen auf, die kaum 1,50 Meter groß war. Sie hielt eine Akte in der Hand. Sara schrak zusammen. Die Dame trug einen weißen Kittel, hatte kurze graue Haare und war leicht untersetzt. Auf ihrem Namensschild stand Alice Cross. „Immer langsam mit den jungen Pferden. Mir war nur die Akte runtergefallen und ich musste erstmal alles zusammensuchen. Wie kann ich Ihnen helfen, Herzchen?“, fragte Alice freundlich. „Entschuldigung. Police Department San Diego. Sara Cooper. Ich suche eine Frau.“ Die Frau blickte sie an, sie hatte ein bereitwilliges Lächeln. „Wen suchen Sie denn?“. „Amanda Gore. Sie ist vor circa zwei Stunden wegen eines Schocks hierhergebracht worden.“ „Oh ja, ich war hier, als sie eingeliefert wurde“, erinnerte sich Alice sofort und schaute in ihren Belegungsplan. „Das arme Ding, völlig aufgelöst war sie. Sie hat ein Beruhigungsmittel bekommen. Sie liegt in Zimmer 532, 5. Etage.“ Sara nickte und bedankte sich. Sie gab ihren beiden Kollegen ein Zeichen, Richtung Fahrstuhl zu kommen. „Und, wie gehen wir nun vor?“, fragte Cruz, als die Fahrstuhltür aufging und die drei einstiegen. Sara drückte die Nummer 5, sie war in Gedanken. Sie überlegte, wie die anderen Eltern auf das Verschwinden ihrer Kinder reagiert hatten. Eine Mutter hat losgeschrien, eine andere hatte sie nur ungläubig
Weitere Kostenlose Bücher