Verschwörung beim Heurigen
Eindruck seines Gegenübers zu gewinnen, und danach ging jeder seiner
Wege. Der Fremde konnte ihm also gleichgültig sein. Aber er war es nicht. Eben noch hatte er ihm den Rücken gekehrt, im wahrsten
Sinne des Wortes, jetzt suchte er ihn. Carl empfand das Verschwinden als Verlust, es war so plötzlich erfolgt, als hätte er
das Gespräch nie geführt, aber der Beweis dafür stand auf dem Tisch: das halb geleerte Glas. Verdammt, wo hatte man ihnen
diesen Wein eingeschenkt?
Säulen flankierten den Haupteingang, durch den Carl den Saal betreten hatte. Fasziniert war er unter der Balustrade stehen
geblieben. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war die ehemals gotische Burg unter Paul I. Fürst Esterházy zu einem Barockschloss umgebaut worden und hatte dem Adelsgeschlecht in den folgenden Jahrhunderten als Residenz
gedient. Wenn man nach oben schaute, öffnete sich unweigerlich der Mund – jemand rempelte ihn von hinten an und entschuldigte
sich tausendmal. Das holte Carl auf den Boden zurück, und er suchte sich eine Ecke, wo er ungestört die Deckenmalerei betrachten
konnte. Im langen Tonnengewölbe reihten sich drei riesige Gemälde aneinander, typisch fürs 17. Jahrhundert, monumental, leidenschaftlich und dramatisch bewegte Figuren, alles sich konzentrierend auf das Göttliche, von
dem die weltlichen Herrscher ihre Macht ableiteten. Für Monarchen und dergleichen Despoten verspürte Carl nicht die geringste
Sympathie, aber die |17| Festlichkeit des Saals in Licht, Gold und Rot war überzeugend und ein idealer Rahmen für den Anlass. Die Fenster in der langen
Seite des Saals führten auf den Innenhof, die der gegenüberliegenden Wand waren blind, sodass sich der Eindruck ergab, als
handelte es sich um ein freistehendes Gebäude.
Der angenehme Klang der vielen Stimmen war überraschend gewesen. Es war laut, eindringlich statt aufdringlich, man hörte gut
und genau, jedes harte Zischeln wie sonst in großen Menschenmengen fehlte, die Stimmen aller verschmolzen in einem Bogen,
aber der einzelne Sprecher war nah. Hier hatte Josef Haydn 1761 als Vizekapellmeister im Dienste des Fürsten begonnen und
eigens für diesen Saal komponiert. Haydn hatte dafür gesorgt, dass bei seinen Konzerten der Marmorboden mit Holz dielen abgedeckt
wurde, um die Akustik zu verbessern. Der Saal, in Schuhschachtelform, so der Begriff, war aus dem rechten Winkel, er wies
keine parallelen Flächen auf, die ein Flatterecho hätten entstehen lassen, und die Nischen in den Wänden unterstützten diese
Wirkung.
Bis ins hohe Alter hinein hatte Haydn hier seine Kompositionen vorgestellt, und Carl nahm sich vor, auf jeden Fall eines der
Konzerte zu besuchen, die hier im Rahmen der Haydn-Festspiele veranstaltet wurden. In den drei Wochen Urlaub würde sich sicher
eine Gelegenheit finden.
Er drängte in Richtung Eingang, wo er seine Einladung hatte vorlegen müssen und sein Name auf der Gästeliste abgehakt worden
war, denn diese Veranstaltung war dem Fachpublikum aus dem In- und Ausland vorbehalten. Weinliebhaber wie er gehörten eigentlich
nicht dazu, aber er hatte einen Weg gefunden, trotz dem hinzukommen. Außerdem war er felsenfest davon überzeugt, dass ein
Drittel der Anwesenden weder einen Weinladen besaß noch für eine Supermarktkette einkaufte. Weine, die dort angeboten wurden,
stellte man hier sowieso nicht vor, dazu waren sie zu gut und zu teuer.
|18| Am Eingang hatte er ein Glas in Empfang genommen und die Runde entlang der Tische der Winzer im Uhrzeigersinn genommen. Er
hatte mit Weißwein begonnen, um nicht durch das Tannin der Rotweine die Mundschleimhaut zu strapazieren. Und vielleicht am
Ende des ersten Drittels hatte er bei einem Winzer seinen Arm mit dem Glas vorgestreckt, hatte es drei Finger hoch gefüllt
bekommen, den Arm vorsichtig zurückgezogen und war dabei mit jemandem zusammengestoßen. Dieser Jemand und er hatten sich aus
dem Gewühl herausgewunden und ihr Gespräch begonnen.
Vergebens suchte Carl nach dem Winzer, bei dem die Begegnung stattgefunden hatte. Er war so viel herumgestoßen worden, hatte
manchen Tisch wegen des Gedränges ausgelassen und dabei die Übersicht verloren. Aber den Tisch von Maria Sandhofer hätte er
mit verbundenen Augen gefunden.
Sie empfing ihn mit einem Lächeln, bei dem ihm nicht ganz klar war, ob es das für gute Freunde war oder ob es vielleicht doch
etwas mehr bedeutete, was ihm viel lieber gewesen wäre.
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