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Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)

Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)

Titel: Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt , Giovanni di Lorenzo
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den Europäern lange Zeit überlegen. Das änderte sich erst gegen Ende des europäischen Mittelalters.
    Bei Ihrem ersten Besuch in China haben Sie Mao Zedong getroffen. War Ihnen das erste Gespräch mit ihm nicht unheimlich? Mao stand ja auch für schwere Verbrechen.
    Ich war erst einmal neugierig auf den Mann und habe ihm das erste Wort überlassen.
    Er begrüßte Sie mit dem Satz: »Sie sind ein Kantianer!«
    Was nicht stimmte. Und er behauptete von sich selbst, ein Marxist zu sein, was auch nicht stimmte.
    Sie hielten ihn für einen Konfuzianer.
    Nein. Ich halte ihn für einen Mann sehr eigener Prägung. Er war ein Mensch, der in keine Schablone passte. Ein Marxist glaubt an das Industrieproletariat; Mao glaubte an das bäuerliche Proletariat auf dem Land. Er glaubte vor allem an die Revolution, daran, dass man dieses große, traditionsreiche Land schnell umfunktionieren könnte. Das fing an mit der Kampagne des »Großen Sprungs nach vorn« Ende der fünfziger Jahre. Da hat er sich sehr geirrt.
    Auch deshalb habe ich eben von schweren Verbrechen gesprochen – der Große Sprung kostete zig Millionen Menschen das Leben.
    Das Letztere stimmt; man muss dazu aber sagen, dass es Hungertote waren.
    Gestorben an der politischen Umsetzung einer wahnwitzigen Idee!
    Mao hat die Toten nicht gewollt. Alle die vielen Millionen Hungertoten waren die unvorhergesehene Folge des Großen Sprungs, das heißt, des Versuches, die Bauern dazu zu bringen, aus Schrott Stahl zu schmelzen, statt Reis oder Weizen zu ernten. Später gab es die schreckliche proletarische Kulturrevolution, unter der viele Menschen gelitten haben.
    Eine Revolution, zu der Massaker, Mord, Folter, Hunger und Erniedrigungen gehörten.
    Millionen von Menschen wurden drangsaliert, und Mao hat das gewusst.
    Ist es nicht erschreckend, dass manche Menschen so viel Macht haben, dass sie die unsinnigsten Willkürakte durchsetzen können?
    Maos Macht war zu groß. Aber in der Geschichte gibt es immer wieder Menschen, deren Macht zu groß ist. Das gilt für Nero oder Dschingis Khan, es gilt für Pizarro und für alle kolonialen Eroberer. Es gilt auch für Mao.
    Sie haben 1975 nicht nur Mao getroffen, sondern auch Deng Xiaoping. Sie mochten ihn offenbar auch deshalb, weil er eine Ihrer Leidenschaften teilte.
    Ja, aber als Raucher war er mir überlegen. Er musste auch ständig ausspucken; dabei konnte er in einen Spucknapf treffen, der anderthalb Meter von ihm entfernt stand. Das hätte ich nicht gekonnt.
    Sie haben einmal gesagt, Deng sei der erfolgreichste kommunistische Führer der Weltgeschichte gewesen.
    Würde ich heute immer noch sagen.
    Woran messen Sie Erfolg?
    An der Veränderung eines Landes zum Guten.
    Mit dem Guten meinen Sie Wohlstand?
    Ja – aber nicht Wohlstand allein. Die Tiananmen-Tragödie im Juni 1989 hat Dengs Erfolg unterbrochen; aber er knüpfte mit seiner Reise durch den Südosten abermals daran an und setzte sich durch.
    Sie sprechen von einer Tragödie, in Ihrem Buch »Weggefährten« schreiben Sie von der«Beendigung der Demonstrationen auf dem Tiananmen-Platz«. Ist das nicht eine euphemistische Umschreibung der blutigen Niederschlagung der Proteste, die nach Schätzungen des Roten Kreuzes in ganz Peking 2600 Todesopfer gefordert hat?
    Diese Zahl kommt mir weit übertrieben vor. Ich war unmittelbar nach Tiananmen in China und habe dort mit dem deutschen, dem englischen und dem amerikanischen Botschafter geredet. Die haben damals die Zahlen sehr viel niedriger geschätzt. Der entscheidende Punkt ist, dass China damals keine kasernierte Polizei hatte. Das heißt: Der Regierung stand ausschließlich das Militär zur Verfügung, wenn sie eingreifen wollte. Und die Soldaten hatten nur gelernt zu schießen.
    Auf unbewaffnete Landsleute?
    Sie haben zunächst ausgehalten, aber sie wurden mit Steinen und Molotow-Cocktails angegriffen und haben sich gewehrt – mit den Waffen, die sie hatten. Gleichzeitig fand, zum ersten Mal seit langer Zeit, der Besuch des Chefs der Sowjetunion in Peking statt. Gorbatschow musste die Große Halle des Volkes durch die Hintertür betreten, weil vor dem Haupteingang die Studenten demonstrierten. Für Deng war das ein enormer Gesichtsverlust.
    Er gilt als derjenige, der die gewaltsame Auflösung der Demonstrationen befohlen hat.
    Ja, aber Sie sagen mit Recht, er gilt als der Befehlsgeber.
    Sie wollen sagen, er war es nicht?
    Das ist schwer zu entscheiden.
    Sie sind nach der blutigen Niederschlagung der Studentenproteste

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