Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
anderen Kaufleute und Produzenten der Mehrwertbesteuerung zu unterwerfen. Auf der anderen Seite ist es in einer Zeit, in der die meisten Finanzhäuser längst global agieren, ein ganz großes Kunststück, diese Steuer einzuführen. Deswegen fordern diejenigen, die von der Finanztransaktionssteuer reden, auch nur ganz bescheidene Prozentsätze, in Wirklichkeit geht es da um Bruchteile von Prozenten.
Um bei Ihrem Beispiel zu bleiben: Wenn ich eine Blume kaufe …
… dann zahlen Sie nur 7 statt 19 Prozent Mehrwertsteuer. Stellen Sie sich mal vor, die Transaktionssteuer für Bankgeschäfte würde auf den Mehrwertsteuer-Normalsatz von 19 Prozent gesetzt! Das System würde zusammenbrechen. Man muss die Kirche im Dorf lassen, hier kommt die alte Kardinaltugend des Maßes ins Spiel. Übrigens ist bei dem Gerechtigkeitsthema notwendig zu erkennen, dass der Wille zur Gerechtigkeit eine Tugend ist, eine dringend notwendige Tugend. Freiheit ist ein Grundrecht, Gerechtigkeit ist eine Tugend.
Wie also ist es um diese Tugend bestellt?
Es ist eine der Konsequenzen der Nazizeit, dass im Grundgesetz vor allem die Rechte betont werden, nicht aber die Verantwortung, die Tugenden und Pflichten. Das ist einer von mehreren Gründen dafür, dass die Erziehung zur Verantwortung in Deutschland nicht ausreichend stattfindet. Man muss lernen, dass man das zu verantworten hat, was man selbst getan hat oder tun will oder was man unterlassen hat – und zwar aus Verantwortung vor dem eigenen Gewissen. Es wird Zeit, dass die Erziehung zur Verantwortung genauso großgeschrieben wird wie die Erziehung zur Wahrnehmung der eigenen Rechte.
Glauben Sie an Gerechtigkeit?
Mein Glaube an die Gerechtigkeit Gottes hat große Löcher bekommen. Gott hat schreckliche Verbrechen geschehen lassen. Das Wort von der Gerechtigkeit Gottes habe ich nie verstehen können. Ich halte es für absurd.
Und die Gerechtigkeit auf Erden?
Die Gerechtigkeit auf Erden ist ein Ziel, das man anstreben muss, das man aber nie vollständig erreichen kann. Gerechtigkeit bleibt eine immerwährende Aufgabe.
Dazu haben Sie sich in Ihrer Rede auf dem SPD-Parteitag bekannt, auch dafür sind Sie bejubelt worden.
Der Jubel hatte etwas mit Sentimentalität zu tun.
Sind Sie selbst auch sentimental geworden, bei so viel Wärme und Zustimmung?
Nein. War mir ein bisschen zu viel.
Sie kokettieren!
Nein. Ich habe versucht, die Bühne so schnell wie möglich zu verlassen.
Als Sie wieder unten waren und sich endlich eine Zigarette anzünden konnten, gab es noch einmal Jubel.
Ja, ja. Auch das muss man in Gelassenheit ertragen. Es gibt viel Schlimmeres!
12. Januar 2012
»Früher war vieles anders, aber nicht besser«
Über das Internet und andere neue Themen
Lieber Herr Schmidt, was empfinden Sie, wenn Sie von der Macht des Internets erfahren: Ist das etwas, von dem Sie meinen, das gehört nicht mehr zu meiner Welt; ist es etwas Bedrohliches oder etwas, das Sie neugierig macht?
Drei Dinge fallen mir dazu ein. Erstens: Das Internet gehört kaum zu meiner Welt. Zweitens: Ich empfinde es als bedrohlich. Und drittens: Es hat Zukunft.
Was empfinden Sie als bedrohlich?
Das Bedrohliche ist der Umstand, dass die elektronischen Medien, die sich ja ständig weiterentwickeln, eine tief greifende kulturelle Veränderung mit sich bringen. Das betrifft nicht nur die westliche Kultur, nicht nur New York City oder die kleine Stadt Hamburg, sondern auch andere Kulturen auf der ganzen Welt. Wenn Sie zum Beispiel im Nahen Osten oder im Maghreb, in Tunesien, Algerien, Ägypten oder Libyen junge Leute mit einem Handy ausstatten, dann wird das im Laufe einer einzigen Generation dazu führen, dass die Frauen sich nicht mehr zwangsverheiraten lassen und die Mädchen nicht mehr beschnitten werden. Das gilt jedenfalls für die Städte; in den Dörfern liefe dieser Prozess vermutlich langsamer ab.
Aber das wären doch alles positive Veränderungen!
Das stimmt. Unbestreitbar führt das Internet auch zu positiven Veränderungen. Das Negative besteht meiner Meinung nach darin, dass das Internet zu Oberflächlichkeit verleitet, zu spontanen Reaktionen, hinter denen kein langes Nachdenken steckt: Ich habe etwas gelesen, und sofort twittere ich dagegen oder darüber – womöglich auch noch in falscher Grammatik. Die elektronischen Medien führen unter anderem dazu, dass die Qualität der Mitteilung abnimmt.
Ich staune immer wieder, dass Sie wissen, was twittern ist!
Ja, das habe ich inzwischen auch
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