Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
Schultern. »Ja. Natürlich ist es schrecklich. Auf der einen Seite. Aber andererseits … Ich denke, die Leute haben eine furchtbare Angst vor dieser Krankheit, sie wird … dämonisiert. Oma wurde anders, das stimmt. Aber es gab nach wie vor wunderschöne Momente. Letzten Sommer haben wir oft draußen vorm Haus gesessen und auf den Fluss geschaut. Wenn es ganz schlimm war, habe ich mir immer gesagt, jetzt ist die Zeit gekommen, etwas zu geben. Ich glaube, das hat sie gespürt. Auch ganz zum Schluss, als sie nicht mehr wusste, wer wir waren. Sie hat die Liebe gespürt.«
Das Mädchen wurde rot und senkte den Blick.
»Ach Lenka, Lenka …« Zygfryd vergrub den Kopf in den Händen.
Für ihn musste der schleichende Tod seiner Frau ganz besonders schlimm gewesen sein. Einen Moment lang wusste Zuzanna nicht, ob er seine Enkelin oder seine Frau Magdalena, das hübsche, eigensinnige Ding aus Janekpolana, meinte.
»Dann ist sie anders geworden.« Das Mädchen hatte sich entschieden, die Wahrheit zu sagen, oder vielmehr, seinen Teil zur Wahrheit beizutragen. Wenn man sie je herausfinden wird, dachte Zuzanna. Jeder hat eine andere Vorstellung von ihr.
»Sie hat angefangen, Deutsch zu reden. Ich habe sie nicht verstanden. Mama hat sich krankschreiben lassen und war bei ihr. Sie hat beinahe ihren Job dafür verloren. Wie kann das denn sein? Hätte sie Oma allein lassen sollen? Sie war bei ihr. Irgendwann fingen die beiden an, Deutsch miteinander zu reden. Ich wusste, dass Oma Deutsche war. Das war nie ein Thema. Alle haben sie gemocht, keiner hatte was gegen sie.«
Zygfryd sah zu Boden. Zuzanna konnte sich denken, dass das nicht immer so gewesen sein mochte. Es hatte sicher Schwierigkeiten gegeben, vor allem zu Beginn ihrer Ehe. Es musste eine große Liebe gewesen sein. Gegen alle Vernunft. Erst recht gegen alle Vorurteile. Eine Liebe, um die sie gekämpft hatten, mit allen Mitteln und allen Gefühlen. Mit Mut und Tapferkeit, mit Wegsehen und Schweigen. Vielleicht sogar mit etwas viel Schlimmerem, das Zygfryd bis heute quälte.
»Ich habe Mama gefragt, über was redet ihr eigentlich? Mama meinte, alte Menschen gehen zurück in ihre Jugend. Oma würde ihr Sachen erzählen, die sie noch nie jemandem erzählt hat. Sie wären sich nahe, meinte sie, auch wenn Oma uns nicht mehr erkennen würde. Doch auch das ging vorbei. Plötzlich wurde Oma unruhig. Sie stand nachts auf und geisterte im Haus herum. Dann hat sie unten geschlafen, im Wohnzimmer, weil wir Angst hatten, sie fällt eine Treppe …«
Lenka brach ab. Sie biss sich auf die Lippen. Ihr war eingefallen, wie Krystyna ums Leben gekommen war.
»Wir wollten nicht, dass sie sich etwas antut. Aber wir konnten nicht rund um die Uhr auf sie aufpassen. Sie ist manchmal abgehauen. Erst lief sie nur durchs Dorf. Dann lief sie stundenlang das Ufer entlang. Alle Leute wussten, was los war. Wenn jemand sie gesehen hat, hat er uns sofort angerufen oder sie gleich nach Hause gebracht. Einmal ist sie fast bis Zielona Góra gekommen, weißt du noch?«
Zygfryd versuchte ein Lächeln unter Tränen. »Sie war immer gut zu Fuß.«
»Ich hab sie immer gefragt: Oma, wohin willst du? Dann hat sie mich angesehen, und ich merkte, sie weiß nichts mehr. Sie findet sich überhaupt nicht mehr zurecht. Zur Post, sagte sie dann. Mädchen, weißt du, wo die Post ist?«
»Zur Post «, flüsterte Zygfryd das deutsche Wort.
»Warum? Was war denn mit der Post?«
»Sie hat die Briefe nie abgeschickt.«
Welche Briefe?, wollte Zuzanna fragen. Dann fiel es ihr wieder ein.
»Die Briefe, die Walther Hagen in seinem Versteck geschrieben hat?«
»Das konnte sie sich nicht verzeihen. Es hat ihr zugesetzt bis zum Schluss. Niemand konnte ihr helfen. Wir wussten ja gar nicht, was sie meinte. Zur Post? Welche Post? Wir sind mit ihr zur Post gegangen, aber sie stand davor und wusste nicht mehr, was sie dort wollte. Erst nach ihrem Tod haben wir es erfahren, fast ein Jahr später, als wir den Wäscheschrank ausgeräumt haben. Walther Hagen hat ihr damals seine Briefe anvertraut. Und sie hat ihm versprochen, sie abzuschicken. Aber was hätte sie tun sollen, in diesen schlimmen Zeiten? Sie war Deutsche. Die Deutschen durften keine Post versenden, schon gar nicht nach Deutschland. Die Grenze war dicht. Es gab Kuriere, aber die waren teuer. Von dem bisschen, das sie auf dem Schwarzmarkt für Hagens letzte Habe bekam, hat sie sich und ihn durchgebracht. Monatelang. Was sollte sie tun? Ihm sagen, dass seine
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