Kleines Lexikon psychologischer Irrtümer - von Abhängigkeit bis Zwangsneurose
Vorwort
Psychische Erkrankungen sollen laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den nächsten Jahrzehnten dramatisch zunehmen. Stimmt das wirklich? Schauen wir uns doch zunächst einmal die Definition von Gesundheit durch die WHO an: »Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.« Eine solch utopische Definition lässt gerade den Vorrat an den weniger objektivierbaren psychischen Erkrankungen ins Gigantische anwachsen. Und psychische Erkrankungen sind mehr als organische immer im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext zu sehen. So gehören Angsterkrankungen in Deutschland mittlerweile zum guten Ton, während sie in Italien kaum verbreitet sind. Mindestens 50 % aller Krankschreibungen hinsichtlich psychischer Erkrankungen halten einer kritischen Überprüfung nicht stand und 80 % der Diagnosen einer posttraumatischen Belastungsstörung sind schlichtweg falsch. Unsere Gegenwartskultur ist maßgeblich geprägt vom philosophischen Konzept der Postmoderne. Dieses nebulöse Zeitgeistphänomen räumt subjektiven Sichtweisen und Interessen letztlich den Vorrang vor Fakten und Beweisen ein. Bei kritischer Betrachtung löst sich das Konzept jedoch als eleganter Unsinn auf. Gegenwärtig kann jedoch davon nicht die Rede sein. Im Gegenteil, es besteht eine deutliche Tendenz darin, das Gewöhnliche
und Banale so mit Bedeutung aufzupumpen, dass alle Aspekte des Alltäglichen von enormer Wichtigkeit geworden sind. Und mit der Psychoanalyse können alle widersprüchlichen seelischen Regungen als Neurose klassifiziert werden. Die Tyrannei der Banalität kann beginnen.
Wenn ich kritisch genug hinterfragt habe, was mein innerstes Selbst tatsächlich will, was ich dringend und was ich weniger dringend benötige, und wenn ich hierüber mit meinem Gegenüber in Kommunikation treten kann, dann kann sich durchaus eine Gelegenheit ergeben, wo über die wirklichen Probleme gesprochen werden kann, um eine bewusstseinsnähere Kultur zu ermöglichen.
Durch dieses spezifische Vokabular wird eine Reflexivität ermöglicht, die Endlosschleifen von unbefriedigten Bedürfnissen erzeugt.
Wie krank muss eine Gesellschaft sein, die es zulässt, dass Probleme nur so formuliert werden, dass Psychologen sie lösen können?
Es existieren derzeit mindestens 2.500 Persönlichkeitstests, an denen eine milliardenschwere Industrie hängt.
Auf der anderen Seite wird die Hirnforschung in den nächsten Jahren in der Lage sein, für jedes Verhalten eine zelluläre bzw. molekulare Grundlage zu finden, natürlich inklusive psychopharmakologischer Beeinflussung.
Für die Hersteller von Psychopharmaka ist die breite Masse der Bürger ein riesiger Markt, stellen die psychischen »Erkrankungen« gleichsam eine schlummernde Goldreserve dar. Und dank geschickter Veröffentlichungen ist aus der normalen Schüchternheit ein klinisches Leiden geworden, welches nun
»soziale Phobie« heißt. Das hiergegen angeblich wirksame Antidepressivum Paroxetin kann nun Millionen unter Schüchternheit leidenden Menschen verschrieben werden.
Doch was Therapiebedürftigkeit ist, bestimmen nicht nur Pharmakonzerne und Psychologen, sondern in zunehmendem Maße jeder, der sich mit Psychoratgebern befasst. Er kann sich aus dem Internet das Entsprechende zurechtlesen und -legen. Es werden sich therapeutische Subkulturen entwickeln. Ein Fass ohne Boden hat begonnen sich zu öffnen. Daran wird auch dieses Buch nichts ändern. Aber es ist mir ein Vergnügen, dem Zeitgeist einmal so richtig die Ohren lang zu ziehen! Der Stil ist bewusst sarkastisch bis polemisch. In einer Zeit, in der Behinderung für manche Intellektuelle eine Stigmatisierung darstellt und durch die Bezeichnung Menschen mit besonderen Eigenschaften ersetzt werden sollte, in der in den USA die Idee aufkam, kleinwüchsige Menschen als »vertically changed people« zu bezeichnen, um sie ja nicht zu stigmatisieren, reicht ein einfacher Klartext meines Erachtens nicht aus. Hier muss der Kontrapunkt zur allumgreifenden Nivellierung und Egalisierung schon wesentlich deutlicher ausfallen.
Die Durchpsychologisierung der Gesellschaft hat den Menschen nicht gutgetan. Denn die meisten sozialen Konflikte und Gespräche sind in einer komplizierten Welt noch komplizierter geworden.
Dr. Burkhard Voß
Krefeld, im Herbst 2011
A
Abhängigkeit
Abhängigkeit rein negativ zu sehen, wäre verkehrt. Wir alle sind abhängig von
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