Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
Grundlage für den Abend schaffen, als ich Alttay betrunken an einem der hinteren Tische bemerkte. Der Gerichtsreporter sah schlecht aus. Vielleicht lag es daran, dass ich Julchen nirgendwo entdecken konnte oder sie schon lange nicht mehr hier arbeitete. Als er aufblickte und seine wässrigen Augen an mir hängenblieben, im Gesicht einen Ausdruck verzweifelter Nachdenklichkeit, in welche Schublade er mich einordnen sollte, drehte ich jedoch um und verwarf den Gedanken. Eins hatte ich mir geschworen: Ich würde mit ihm nie wieder über Marie-Luise reden.
Sie konnte überall und nirgends sein. Ich suchte sie in unserer Bar in der Münzstraße unweit vom Alexanderplatz, ich klapperte sämtliche Vietnamesen im Scheunenviertel ab und verstieg mich schließlich sogar darauf, den Ressortleiter der Wochenendbeilage vom Neuen Deutschland anzurufen, nur weil sie mir einmal verraten hatte, dass er die größte Sammlung von DDR-Witzen auf Lager hatte. Niemand wusste, wo sie war. Keiner hatte sie in den letzten Wochen gesehen.
Mutter schenkte mir eine Tasse Tee ein. Es schwammen Dinge darin herum, die an zerkochte Algen erinnerten.
»Vor vierzehn Tagen hat sie die letzte Beratung abgehalten. Danach ist sie zweimal nicht gekommen«, sagte sie.
»Hat man versucht, sie zu erreichen?«
»Ja. Natürlich. Aber weil sie das freiwillig und kostenlos gemacht hat, hat der Verein es schließlich aufgegeben. Damals ging ihr Handy wohl noch. Sie ist nur nicht rangegangen.«
»Also hat sie eine neue Nummer?«
Ratlos schaute Mutter auf Hüthchen.
»Habt ihr sie euch geben lassen?«
Ratlos starrte Hüthchen zurück.
Glücklicherweise kündete ein lautes Klirren die Ankunft von Kevin an, der im unbeleuchteten Eingangsbereich einen offenen Werkzeugkasten übersehen hatte.
»’n Abend zusammen!«, rief er. »Wer lässt denn seinen Kram hier im Dunkeln stehen?«
Mutter wandte sich ab und ging in die Küche, um neues Wasser aufzusetzen. Ich schob meinen Becher höflich dem Neuankömmling hinüber, der sich mit Schwung neben Hüthchen aufs Küchensofa fallen ließ.
»Also. Was habt ihr?«, fragte er in die Runde.
Ich fasste die dürren Erkenntnisse der beiden Damen zusammen.
Kevin nickte. »Das deckt sich mit dem, was ich herausgefunden habe. Marie-Luise wohnt jetzt irgendwo zur Untermiete im Wedding. Keiner weiß wo, aber ich habe ihre Handynummer.«
»Und?«
»Bandansage. Keine Mailbox. Wahrscheinlich hat sie es ausgeschaltet. Ich hab ihr eine SMS geschickt, mit der Bitte, umgehend eine Nachricht an ihre Hinterbliebenen zu senden. Sonst würden wir schon mal ohne sie die Trauerfeierlichkeiten vorbereiten und bestimmt die falsche Musik aussuchen.«
»Das ist doch nicht Ihr Ernst!«, rief Hüthchen.
»Nein. Was dachten Sie denn?«
Kopfschüttelnd wuchtete sie sich hoch und ging zu meiner Mutter, um ein neues Fuder Heu oder eine Ladung Algen aufzugießen.
Kevin beugte sich vor. »Das gefällt mir nicht«, sagte er leise. »Und Jaceks Werkstatt gibt es auch nicht mehr. Vorne ist jetzt eine Boutique drin und hinten ein Friseur.«
»Hast du eine Ahnung, wo er …?«
Mein Handy klingelte. Statt eines Namens erschien auf dem Display der Hinweis »Achtung! Vaasenburg!«, damit ich den Anruf, wenn ich in Hektik war, nicht aus Versehen annahm. Vaasenburg war Kriminalhauptkommissar bei der Mordkommission. Ich hatte lange nichts mehr von ihm gehört. Dass er sich ausgerechnet jetzt meldete, war seltsam.
»Was ist?«, fragte Kevin, der mich dabei beobachtet hatte, wie ich das Handy in der Hand hielt und klingeln ließ. Nach dem fünften Mal würde die Mailbox anspringen. In letzter Sekunde meldete ich mich.
»Vernau.«
»Vaasenburg hier. Sie erinnern sich noch an mich?« Er schnaufte in den Hörer. Es war nach acht, er hatte laut Bundesbeamtengesetz schon längst Feierabend.
»Natürlich.«
»Ich muss Frau Hoffmann erreichen. Können Sie mir sagen, wo sie sich aufhält?«
»Um was geht es denn?«
»Das würde ich gerne mit ihr persönlich besprechen.«
Ich warf Kevin einen schnellen Blick zu, der nahe genug saß, um das Gespräch belauschen zu können. Er schüttelte den Kopf.
»Würden Sie sich bitte trotzdem etwas genauer ausdrücken?«
»Herr Vernau, klarer kann ich es wegen Ihrer engen Beziehung zu der Gesuchten nicht machen.«
Ich stand auf. Den Hörer am Ohr suchte ich einen Weg hinaus ins Freie, ohne mir die Schienbeine zu brechen. Wenn es um Marie-Luise und mich ging, wollte ich keine Lauscher.
»Unsere bilateralen
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