Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
Irgendeinen.«
Einen Namen … einen Namen …
»Häwelmann.«
»Häwelmann?«, wiederholt die Schwester irritiert und verfremdet das Wort dabei fast bis zur Unkenntlichkeit.
Sie buchstabiert den Namen.
Wird doch mit einem W geschrieben, oder ?
Paulina assistiert, die Schwester schreibt. Währenddessen überstürzen sich die Gedanken im Kopf. Odra. Cigacice. Schilf.
»Vorname?«, fragt Paulina.
Sie lässt sich zurück aufs Kissen fallen, schließt die Augen und hebt die Hand mit einer abwehrenden Bewegung.
»Nazwisko!«
»Name!«
Bildfetzen. Nacht. Sie sieht ihre Füße, die Stiefel sind noch da, ihre Hände, zerschrammt und blutend, will sich an etwas festhalten, damit sie nicht in den Abgrund gezogen wird. Der dunkle Fluss? Nein, es ist etwas anderes. Ein überwuchertes Terrain mit gewaltigen Bäumen und Schlingpflanzen, die nach ihren Knöcheln schnappen. Todesangst. Panik. Schreie. Unmenschliche Schreie.
» Pani Häwelmann!«, ruft die Schwester. »Frau Häwelmann.«
Ein Name. Gib mir einen Namen. Es muss etwas Schreckliches geschehen sein. Man vergisst doch nicht, wie man heißt! Dafür sind die Bilder zu klar, ist das Zittern zu stark, die Angst, die kalte Angst so dicht, dass ich sie spüren kann wie den Atem suchender Gespenster … Weg, nur weg!
Sie fällt in eine Grube. Arbeitet sich wieder heraus. Läuft weiter. Stürzt. Schlägt sich die Knie an scharfen Steinkanten auf. Wo ist sie? Was ist das für ein unheimlicher Ort? Wolkenfetzen jagen über den Mond. Für einen kurzen Moment erhellt sein Silberschein eine gespenstische Szenerie. Monolithen, Steinquader, schräg in der Erde, als wären sie vom Himmel gestürzt und aufgeschlagen. Ein kunstvoll geschmiedetes Eisenkreuz ragt schief aus einer Grube. Sie muss hier weg. Sie muss fliehen. Die grausamen Schreie kommen näher.
»Ein Name!«
Sie hastet weiter, verfängt sich im Gestrüpp. Vor ihr gähnt ein schwarzes Loch. Eingesunkene Erde. Die geborstene Platte ist aus schwarzem Glas. Goldene Buchstaben sind in sie eingeätzt. Namen. Es sind Namen, kaum noch zu entziffern.
»Ich … ich weiß es nicht!«
Sie hetzt weiter. Das Grauen umhüllt sie wie ein schwarzer Schleier. Die Stimmen von Paulina und der Schwester werden leiser. Jemand packt sie am Arm, sie schreit, reißt die Augen auf – und sieht es. Sieht alles.
Ich weiß, wo ich bin.
Zitternd bleibt sie stehen, presst den Körper an einen uralten, knorrigen Baum. Die Schreie sind verstummt. Sie hört das Keuchen ihres eigenen Atems und versucht, die Panikreaktionen ihres Körpers unter Kontrolle zu bekommen. Ihr Puls rast. Das Blut rauscht in den Ohren. Oder ist es der Wind in den Wipfeln der Bäume? Sie sieht sich um.
Die Schatten der Kreuze fallen in tiefe Gruben. Grabsteine, zur Hälfte in der Erde versunken. Die Eisenzäune, die einst die Gräber umstanden hatten, sind entweder umgefallen oder stützen sich gegenseitig in ihrer Schieflage.
Das ist ein Friedhof. Ein vergessener Ort. Versunkene Gräber.
Das leise Klirren von Eisen auf Stein. Es ist noch nicht vorbei. Es wird sie finden. Schritte. Tastend, vorsichtig. Darauf gefasst, das scheue Wild aufzuscheuchen und zu erlegen. Sie muss sich verstecken. Sie braucht Schutz. Vor ihr gähnt ein Abgrund. Uralte,
gebrochene Marmorblöcke führen als Stufen hinab. Moos und Erde haben sich in den Rissen und Adern der knöchernen Steine festgesetzt. Rettung oder Falle? Zu spät – sie rutscht aus, fällt. Schmerz durchbohrt ihr Handgelenk wie glühender Stahl. Sie duckt sich, will aufschreien und beißt sich stattdessen in den geschundenen Knöchel. Todesangst, Schmerz und Panik lassen sie unkontrolliert zittern wie trockenes Laub im Wind. Unter ihr, am Ende der Stufen, ein niedriges, halb verschüttetes Eingangsloch. Das Eisengitter, das es einmal verschlossen hat, liegt daneben. Das Blut rauscht in ihren Ohren, ein wilder, aufgepeitschter Fluss, sie muss ruhiger werden, leiser atmen … Sie kriecht hinab, sieht immer wieder verschreckt nach oben, hält inne und lauscht – die wütenden Schreie werden leiser. Wenn sie noch tiefer hinabsteigt, hinein in das dunkle Loch, ist eine Umkehr ausgeschlossen.
Mit unglaublicher Wucht schlägt Eisen auf Stein. Der Klang wird wieder lauter, nähert sich. Es kommt zurück. Es wird sie finden.
Sie beißt die Zähne zusammen, legt sich auf den Bauch und kriecht durch die schmale Öffnung in einen steinernen Raum. Darin ist es so dunkel wie in der Hölle und stinkt auch so. Unrat bedeckt
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