Versunkene Gräber - Roman
wollte sie noch nicht weggeben. Das ist der letzte Brief von Walther Hagen.«
38
Der starke Regen war in ein sanftes, penetrantes Nieseln übergegangen. Es war noch nicht spät, und wäre dies ein Sommerabend gewesen, wie man ihn eigentlich hätte erwarten können, dann hätte sie noch nicht einmal die Scheinwerfer einschalten müssen. Doch die Wolkendecke war dicht geschlossen, eine irritierend frühe Dämmerung senkte sich herab. Die Bäume hatten Laub verloren, gelbgrüne Blätter, die nassglänzend auf dem Kopfsteinpflaster und ihrem Auto lagen. Aus einigen Schornsteinen stieg weißer Rauch. Zuzanna fröstelte. Kaminfeuer im Hochsommer. Irgendwie schien ihr der Gedanke passend zu dem, was sie gerade gehört hatte. Ein Mord mit einem siebzig Jahre alten Motiv. Nichts fügte sich, wie es sollte, die Zeit trieb mit ihnen Schabernack.
Sie fuhr zurück zur S 3 und hätte nach rechts abbiegen müssen, um über die Brücke zurück nach Zielona Góra zu gelangen. Stattdessen lenkte sie den Wagen weiter geradeaus, auf die kleine, mit Schlaglöchern und Pfützen übersäte Straße Richtung Górzykowo. Sie verbot sich, darüber nachzudenken, was sie gerade tat. Sie folgte einfach dem Licht der Scheinwerfer, das die aufsteigenden Nebelfetzen über dem Asphalt zerteilte, und konzentrierte sich darauf, nicht aus Versehen rechts in die Odra zu fahren, die sich breit, dunkel und ungezähmt in der Einsamkeit verlor. Als sie Janekpolana erreichte, ließ sie den Wagen an der einzigen Bushaltestelle im Ort rechts ausrollen, schaltete den Motor aus und betrachtete die kleinen Häuser links und rechts der Straße, hinter denen sich der Weinberg wie ein schützender Wall erhob.
Sie holte ihr Handy aus der Tasche und überlegte, ob sie anrufen sollte. Vielleicht war er gar nicht zu Hause. Warum war sie hier?
Weil sein Vater ein Mörder ist. Weil niemand so eine Erkenntnis alleine wegstecken kann.
Sie legte das Handy zur Seite und ärgerte sich, dass sie sich selbst belog. Den Wagen ließ sie stehen. An diesem Abend würde kein Bus mehr kommen. Falls doch, war immer noch genug Platz. Sie schloss noch nicht einmal ab, weil es dem Unterfangen einen weiteren Anstrich von Improvisation verlieh. In zehn Minuten bin ich zurück, dachte sie . Zumindest war es kein Raubmord. Trotzdem blieb eine nagende Unzufriedenheit, weil sie Mitgefühl mit den Nowaks hatte und ihnen in ihrer Trauer nicht auch noch die Polizei ins Haus wünschte. Aber auch dies war geschehen, sie hatte den Beamten noch die Tür geöffnet, und wieder bewies das Schicksal ein verdammt schlechtes Timing.
Die letzten Häuser kamen in Sicht, dann die Biegung. Mit ihren Turnschuhen war sie so leise wie der sanfte Regen. Sie musste sich zurückhalten, um nicht schneller zu gehen, denn plötzlich war sie aus einem nicht ersichtlichen Grund außer Atem. Als sie den Ausläufer des Weinberges umrundet hatte und die Siedlung vor sich liegen sah, blieb sie einen Moment stehen.
Im Herrenhaus brannte Licht. Er ist da, dachte sie. Kehr um. Doch dann lief sie weiter, über den weiten Vorplatz bis zu den Stufen. Sie warf einen schnellen Blick auf den Friedhof. Still und verlassen lag er da, nur das Absperrband vom Morgen leuchtete im Dunkeln und versperrte Eindringlingen – hoffentlich – den Weg zur Kapelle.
Es gab keine Klingel. Sie klopfte leise und wartete, aber niemand öffnete ihr. Vorsichtig drückte sie die Klinke hinunter und schob die Tür auf. Sie sollte rufen. Sich irgendwie bemerkbar machen. Nicht dass sie die Nächste wäre, die eine Eisenstange über den Schädel gezogen bekam.
Das Licht kam aus dem Raum rechts. Aus dem Türenzimmer. Noch immer schauderte sie bei der Erinnerung an den alten Mann, der plötzlich völlig außer sich vor ihr aufgetaucht war.
Das ist nicht richtig. Du kannst dich hier nicht einfach so einschleichen.
Ein schleifendes Geräusch erklang, doch es wirkte anders und vertraut. Sandpapier auf Holz. Eine Diele knarrte, als sie die halb offene Tür berührte, aber er hörte sie nicht. Er stand, den Rücken ihr zugewandt, vor zwei Holzböcken, auf denen ein Fenster lag. Mit weit ausholenden, regelmäßigen Bewegungen schliff er den Rahmen ab. Er trug ein offenes Hemd, darunter ein T-Shirt und eine weite blaue Arbeitshose. Die Haare hatte er wieder zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie sah, dass er auch ein Tattoo im Nacken hatte. Ein schmales Tribal, und für einen schwachen Augenblick überkam sie die Lust, es zu berühren.
Sie räusperte sich.
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