Versunkene Gräber - Roman
Jacek hielt inne und drehte sich zu ihr um. Seine dunklen Augen wurden schmal. Wahrscheinlich fragte er sich, warum sie nicht gerufen oder geklopft hatte. Plötzlich kam sie sich unglaublich dumm vor.
»Guten Abend. Ich hoffe, ich störe nicht.«
Er legte den Block mit dem Schmirgelpapier auf das Fensterglas und wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab. Er war von oben bis unten staubbedeckt.
»Ich war grade in der Gegend … also, ich war wirklich in der Gegend. In Cigacice. Und da dachte ich …«
Umdrehen. Gehen. Und wenn er dich jemals darauf anspricht, einfach behaupten, er hätte wohl schlecht geträumt .
»Ja?«
»Ich …« Sie hustete. »Mein Gott, ist das staubig hier.«
Jacek warf einen Blick auf das Fenster, dann auf den Schleifblock, dann sah er sie wieder an.
»Ich schleife einen Fensterrahmen ab.«
»Ah. Ja. Es geht voran, nicht?« Sie machte zwei, drei Schritte und tat dabei so, als ob sie die Türen bestaunen würde. »Bis Sie die alle fertig haben … So viele Türen hat das Haus doch gar nicht, oder?«
»Sind Sie hier, um meine Türen zu zählen?«
Gut. Hervorragend. Du machst dich wirklich zum Affen .
»Nein. Ich wollte Ihnen eigentlich mitteilen, was ich in Cigacice von der Familie Nowak erfahren habe. Und zwar bevor ich die Polizei und den ermittelnden Staatsanwalt informiere. Aber wenn ich störe, kann ich auch am Montag wiederkommen oder morgen anrufen.«
Sie wollte sich umdrehen, da sagte er: »Nein. Bleiben Sie. Kommen Sie mit.«
Er ging in den hinteren Teil des Raumes, wo sich ein schmaler Durchgang zur Küche verbarg. Sie folgte ihm und warf im Vorübergehen einen Blick auf seine Arbeit. Es war ein alter Fensterrahmen mit Messingbeschlägen, die er bereits abmontiert und zur Seite gelegt hatte.
Er arbeitete durchdacht und sorgfältig. Aus irgendeinem Grund freute sie das.
In der Küche sah es aus, als wäre vor Jahren ein Wirbelsturm durchgebraust und niemand hätte sich seither die Mühe gemacht, wieder aufzuräumen. Im Spülbecken stapelte sich schmutziges Geschirr. Jacek suchte zwei Gläser heraus, wusch sie ab und stellte sie auf den Tisch. Dort standen bereits eine halb volle Weinflasche und ein ziemlich voller Aschenbecher.
»Nehmen Sie Platz.«
Sie setzte sich vorsichtig auf einen Stuhl aus Aluminiumrohr, dessen Polsterung aufgerissen war.
»Ein Glas Wein?«
»Ich bin mit dem Auto da.«
»Also ein halbes Glas.«
Er schenkte ihr zwei Fingerbreit ein. Sich selbst machte er das Glas voll. Er zog sich einen zweiten Stuhl heran, drehte ihn mit der Lehne nach vorne und legte die Arme darauf ab. Dann nahm er sein Glas und wies mit einer Handbewegung auf ihres. Sie hob es hoch und schnupperte daran. Junger Rotwein. Nicht schlecht.
»Also.« Er nahm einen großen Schluck und behielt das Glas in den Händen. »Was gibt es Neues?«
»Die dreißigtausend Euro sind wieder da.«
»Wo?«
»Im Haus der Nowaks, im Schlafzimmer von Zygfryd. Es lag in der Schublade seines Nachttischs.«
Jacek hob die Augenbrauen. »Darf ich fragen …«
»Nicht, was Sie denken. Zygfryd ist fast neunzig Jahre alt. Seine Frau Magdalena ist letztes Jahr gestorben. Sie war, vor langer, langer Zeit, Dienstmädchen auf diesem Weingut.«
»Deutsche oder Polin?«
»Deutsche. Aber sie ist geblieben. Zum einen, weil sie sich in Zygfryd verliebt hatte und er sich in sie. Zum anderen, weil eines Tages, wahrscheinlich im Frühjahr fünfundvierzig, ein halb verhungerter Mann hier aufgetaucht ist. Ihr einstiger Gutsherr. Walther Hagen.«
»Wie?«
»Wie er hier aufgetaucht ist? Ich weiß es nicht. Vielleicht steht es in den Briefen, die er in seinem Versteck geschrieben hat. Diese Briefe vertraute er Magdalena an. Sie sollte sie auf die Post bringen. Aber es gab keine Post mehr nach Deutschland zu dieser Zeit. Sie hat es ihm verschwiegen. Sie hat ihm auch verschwiegen, dass er für seine Familie längst tot war. Gefallen an der Burschener Schleife.«
»Wo waren seine Leute?«
»Die Ehefrau hat mit den Kindern Janekpolana neunzehnhundertvierundvierzig verlassen.«
Jacek drehte das Glas zwischen seinen Handflächen. Sie waren voller Schwielen, hatten einige Schrammen und Kratzer. Trotzdem waren es schöne Hände. Kräftige Hände. Hände, die etwas aufbauen, etwas erschaffen sollten. Er war über vierzig. Und alles, was er auf der Habenseite seines Lebens verbuchen konnte, waren ein heruntergekommenes Haus und ein kleiner Weinberg, der zurzeit noch nicht mal einen Mann ernähren konnte. Es wird
Weitere Kostenlose Bücher