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Versunkene Gräber - Roman

Versunkene Gräber - Roman

Titel: Versunkene Gräber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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behielten noch etwas Schmuck, ein Medaillon, die erste Locke oder die Milchzähne der Kinder, die ihre meist verwitweten Eltern ins Heim brachten, sich liebevoll verabschiedeten und dann recht selten oder gar nicht mehr gesehen wurden. Die Männer einen vergilbten Meisterbrief oder einen Universitätsabschluss, manche behielten ihre Autoschlüssel, auch wenn sie nie wieder fahren würden. Der neue Gast hatte ein Taschenmesser dabei, ein Briefmarkenalbum, ein Schachspiel und – einen Schlüssel. Einen großen, schweren, verschnörkelten eisernen Schlüssel.
    Er passte nicht zu normalen Türen. Er war für hohe Portale gedacht, für geschmiedete Tore oder deckenhohe Flügeltüren in alten Burgen. Eine Handspanne lang, mit einem medaillengroßen Anhänger. Vielleicht hatte er einmal zu einem Hotel gehört. In den Anhänger war so etwas wie ein Wappen geprägt. Ein Rabe auf einem Ring.
    »Schön«, hatte sie gesagt. »Woher Sie haben?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Sie hatte den Schlüssel mit den anderen Kleinigkeiten in den Schrank gelegt und die Tür offen gelassen.
    »Sie haben vergessen?«
    »Nein, nicht vergessen. Ich habe nur das Schloss dazu bis heute nicht gefunden.«
    Sie erinnerte sich an sein Lächeln, als er das gesagt hatte. Es lag Wehmut darin. So, als ob man eine Aufgabe, die das Leben einem übertragen hatte, nur zur Hälfte bewältigt hätte.
    Nie hätte Krystyna geglaubt, dass sie sich einmal nachts an den Habseligkeiten eines Heimbewohners vergreifen würde.
    Ich habe ihn doch nur ausgeliehen!
    Der schwere Schlüssel gleitet ihr aus den zitternden Fingern und fällt auf den Fußboden. Sie zuckt zusammen. Das Geräusch hat den Mann geweckt. Seine Hand geht zum Nachttisch. Vorsichtig bückt sie sich und tastet nach dem Schlüssel. Es klirrt. Die Lampe flammt auf. Geblendet schließt sie die Augen. Sie weiß, was er sieht.
    Krystyna Nowak, Altenpflegerin im Haus Emeritia in Berlin Zehlendorf, bestiehlt nachts einen alten Mann. Niemand würde ihr glauben, dass sie nur gekommen war, um den Schlüssel zurückzubringen.
    Sie werden herausfinden, was ich getan habe. Und das ist das Ende.
    Sie reißt die Augen auf. Der Mann starrt sie an.
    »Was … was zum Teufel …?«
    Sein Blick gleitet an ihr vorbei, fällt auf den offenen Safe und wandert schließlich zurück zu ihrer Gestalt und den hinter dem Rücken verborgenen Händen.
    »Was machen Sie da?«
    Er versucht, den Notrufknopf zu erreichen und sie gleichzeitig nicht aus den Augen zu lassen. Sie tritt einen Schritt vor. Der schwere Schlüssel scheint in ihrer Hand zu glühen. Gott steh mir bei, denkt sie. Hektisch fegt er die Lampe vom Tisch. Das Licht erlischt. Sie hört, wie er die Schublade aufzieht und etwas sucht.
    »Hilfe!«, ruft er.
    Doch seine Stimme hat keine Kraft mehr. Sie ist nur noch ein heiseres Krächzen.
    »Was haben Sie vor? Um Himmels willen! Was tun Sie?«
    Sie hebt die Hand.
    Gott vergib mir . Ich werde dich töten.
    Es gibt Fälle, die kann man nicht einfach an der Bürotür abgeben und nach Hause gehen. Man nimmt sie mit, trägt sie mit sich herum, grübelt an roten Ampeln, stellt sich Fragen in schlaflosen Nächten. Wann kam der Stein ins Rollen? Ab wann gab es kein Zurück mehr? Hätte alles verhindert werden können? Auf diese Fragen gibt es Antworten. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, wenn Krystyna Nowak damals nicht den Koffer des alten Mannes ausgepackt hätte. Oder, früher angesetzt, wenn eine junge Frau 1945 nicht aus Gnade gelogen hätte. Oder, noch viel früher, wenn es diesen versprengten, schlotternden Haufen in einem Tolbrukstand am Pommernwall nicht gegeben hätte, den die Rote Armee einfach überrannte. Oder, ganz tief in die Trickkiste der Geschichte gegriffen, wenn Louis Bohne 1815 nicht mit seinem niederländischen Frachtschiff in Königsberg angelegt hätte, an Bord zweitausend Flaschen Champagner und ein Fass Ch â teau Yquem, die er nach Russland schmuggeln wollte. Ebenso wenn 1811 nicht das letzte Friedensjahr Napoleons gewesen wäre und am Himmel nicht mehrere Kometen als Vorboten eines gewaltigen Unglücks gestanden hätten … Okay, an diesem Punkt wird es absurd, und dennoch besteht zwischen all diesen Ereignissen eine Verbindung: Sie führen direkt zum point of no return .
    Ich glaube nicht, dass Krystyna in diesem dunklen Zimmer damals an einen Tolbrukstand dachte. Und der alte Mann, der hilflos in seinem Bett lag, wird ebenfalls anderes als Napoleon im Sinn gehabt haben. Doch beide wissen in

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