Versunkene Gräber - Roman
Hausnummer.«
»Du vergisst sogar das Brot bei einer Stulle.«
Kevin sah mich an. Ich legte den Finger auf den Mund. Meine Mutter und Hüthchen. Wen hatte Zuzanna aus Poznań eigentlich noch alles aufgesucht? Welche Völkerwanderung setzte sich mittlerweile in Bewegung, um eine spurlos Verschwundene zu finden?
Schritte kamen über den Hof. Mit einem Seufzen stand ich auf. Im Türrahmen erschien die Gestalt meiner Mutter – Hut, Tasche am Arm, gesunde Schuhe mit kleinem Absatz. Hinter ihr tauchte eine ausgefranste Kugel auf – Frau Huth, ihre angebliche Putzfrau, die ich mittlerweile zähneknirschend als Lebensabschnittsmitbewohnerin akzeptiert hatte.
»Ach!«, rief die Kugel aus. »Der Herr Sohn!«
Sie tat immer so, als ob sie das nur zu sich selbst sagte.
Meine Mutter tastete nach dem Lichtschalter, um besser zu sehen. »Joachim! Wie gut, dass ich dich hier treffe. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Nicht um dich, natürlich, das weißt du doch, oder? Heute Vormittag kam eine junge Frau aus … ich glaube aus Polen, nicht? … bei uns vorbei und hat nach Marie-Luise gefragt. Sie geht nicht ans Telefon, Marie-Luise meine ich, und ich wollte dich nicht stören … Ist sie da?«
»Nein«, antwortete ich. »Sie ist nicht da.«
»Ah so … Guten Tag.« Sie trat zu Kevin und reichte ihm die Hand. »Ich bin Hildegard Vernau. Wir kennen uns, nicht?«
»Ihr Umzug damals in die Mulackstraße.«
»Ja! Natürlich!«
»Unvergessen.« Hüthchen nickte und ignorierte Kevins ausgestreckte Hand. »Es hat in Strömen geregnet, und Ihr Bekannter hat sich aufs Sofa erbrochen.«
»Alles Schnee von gestern«, sagte meine Mutter. »Die jungen Leute feiern eben gerne. Und die Couch hatte längst ausgedient. Darf ich vorstellen? Das ist …«
»Ihre Haushälterin«, unterbrach ich sie, weil jedes andere, darüber hinausgehende Verhältnis vor Dritten nicht diskutabel war. »Frau Huth.«
Hüthchen brummte etwas in ihren Damenbart und sah sich um. Die neuen Neonlampen, stylisch und modern, passten nicht in diesen Aufgang. Es war ein Haus aus der Gründerzeit. Der Furor, mit dem man der abgelebten Hure Berlin partout neue Kleider anziehen wollte, erinnerte mich vage an die sechziger Jahre. Damals hatte man alles – Stuck, Posamente, Verzierungen – von den Fassaden abgeschlagen, um sie der neuen, kühlen Zeit anzupassen. Wir leben in den neuen Sechzigern, dachte ich. Städtebaulich, moralisch, barttechnisch. Aber ich hatte keine Zeit, den Gedanken zu vertiefen.
»Hier soll das sein?« Frau Huth blickte misstrauisch am Geländer hoch in die oberen Stockwerke. »Sieht aber teuer aus. Dass Sie sich das leisten konnten …«
»Marie-Luise wohnt hier nicht mehr«, erwiderte ich. »Ihre Kanzlei gibt es nicht, ihr Telefon ist abgemeldet. Hat irgendjemand von euch eine Ahnung, wo sie sich aufhalten könnte?«
»Nein.« Betrübt schüttelte meine Mutter den Kopf. »Könnte diese Sache in Polen vielleicht mit einem Mann zu tun haben? Die Dame, die heute bei uns war … also irgendwie ist mir das merkwürdig vorgekommen. Fast schon persönlich gekränkt. Vielleicht geht es um ein uneheliches Kind?«
»Von Marie-Luise?«, unterbrach ich die Spekulationen einer unterforderten Fantasie. »Bestimmt nicht.«
Verwirrt schob sich meine Mutter eine silbergraue, wassergewellte Locke unter den Hut. »Nein, aber vielleicht von dieser Polin und Marie-Luises Freund? Hat sie denn wieder einen? Das war ja immer ein großes Durcheinander. Vor allem, als du noch mit Marie-Luise zusammen warst. Mal so, mal so, man kam ja gar nicht mehr mit. Wobei ich sagen muss, im Vergleich zu dem, was nachkam bei dir, hat sie recht gut …«
»Bleiben wir einfach mal bei dem, was wir wissen«, sagte ich schnell. »Kevin?«
»Mir hat die polnische Dame jedenfalls erklärt«, hob er an und strich erneut über seinen Bart, den er sich wohl aus keinem anderen Grund hatte stehen lassen, »dass es verdammt dringend wäre und Marie-Luise sich umgehend bei ihr melden sollte.«
Alle sahen mich an.
»Und was hat sie dir gesagt?«, fragte Mutter.
Ich öffnete den Mund – und schloss ihn wieder. Alle starrten mich an.
»Was?«, hakte Kevin nach. »Weißt du was, das wir nicht wissen?«
»Nichts Genaues«, antwortete ich. »Mein Vorschlag wäre: Wir versuchen, Marie-Luise bis morgen ausfindig zu machen. Wenn sie nicht gefunden werden will, ist das okay. Aber wir sollten das wenigstens wissen. Wir sind schließlich ihre nächsten … was auch
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