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Versunkene Gräber - Roman

Versunkene Gräber - Roman

Titel: Versunkene Gräber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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nicht hätte zustoßen dürfen …«
    »Dann sagst du mir Bescheid. Oder Marie-Luise. Sie lässt euch nicht aus den Augen. Sie ist rund um die Uhr an eurer Seite. Sie ist …«
    »Ja«, kam es von der Rückbank. »Was bin ich eigentlich?«
    Ich suchte ihre Augen im Rückspiegel. »Eine Gesellschafterin. Mädchen für alles.«
    »Und Frau Huth?«
    Ich konzentrierte mich auf den Verkehr. Mutter und Hüthchen warteten darauf, wie ich ihre eingeschworene Lebensgemeinschaft etikettieren würde.
    »Eine Freundin.«
    Hüthchen räusperte sich.
    »Eine gute Freundin. Okay?«
    Ich versuchte mich zu erinnern, was Hüthchen anhatte. Nur mit Mühe hatte ich ihr den Kaftan und diese merkwürdige Kopfbedeckung ausgeredet. Ich erinnerte mich daran, dass der echte alte Adel Wert darauf legte, möglichst abgeranzt herumzulaufen. Deshalb hatte ich ihr eine Cordhose und eine uralte Lederjacke aus dem fast vergessenen Fundus meines Vaters verordnet, den ich vor langer Zeit einmal aus ihren Klauen gerettet hatte. So verbiestert, wie sie aussah, hätte sie durchaus auch als Herr Huth durchgehen können.
    »Und?«, raunzte sie mich an. »Haben Sie für mich auch so eine Räuberpistole auf Lager?«
    »Natürlich.« Wir erreichten die Querstraße, ich bog ab. »Sie haben sich beide auf der Flucht kennengelernt. Mutter aus Schlesien, Sie, Frau von Huth, aus Ostpreußen. Ihr kennt sicher diese Filme: Flucht, Winter, Pferde, Russen.«
    Alle starrten mich an. Damit trieb man wohl keine Scherze.
    »Ja, Entschuldigung. Aber hat es da nicht von pflichtbewussten, ihr Fußvolk innig liebenden Adeligen nur so gewimmelt? Leider haben sie es mit der Pflicht dem Führer gegenüber meistens ebenso genau genommen. Oder? Erinnert euch an diese blonde Schauspielerin in diesem Flucht-Event-Film. Schnee in den Haaren, Sorge im Blick, verbotene Liebe zu knackigen Zwangsarbeitern …«
    Ich brach ab. Zu viel Zynismus. Marquardt war ansteckend. Als das Thema Flucht und Vertreibung in den letzten Jahren größer diskutiert wurde, war ich erstaunt über die Rolle der edlen Retter, die zur Hauptsendezeit dem ostpreußischen und pommerschen Adel per se und flächendeckend zuerkannt worden war. Sicher hatte es Ausnahmen gegeben. Ehrenhafte Menschen, die Verantwortungsgefühl besessen hatten. Viel zu viele aber waren ihrer mittelalterlichen Haltung, dem Lehnsherrn und Führer Treue für Treue zu schwören, verbunden geblieben. Bis in den Untergang.
    »Das geht nicht.« Hüthchen bockte wieder. »Ich war damals erst acht.«
    »Dann machen Sie sich einfach ein paar Jahre älter. Das wird Ihnen sicher nicht schwerfallen, oder?«
    »Das geht trotzdem nicht. Schlesien und Ostpreußen sind zwei unterschiedliche Richtungen.«
    »Dann sind Sie sich eben im Flüchtlingslager begegnet. Oder beim Bund der Vertriebenen. Kaffeefahrten, Schlesierlied, Ostpreußenwimpel, ein bisschen Deutschland-den-Deutschen-Gemurmel …«
    Hüthchen sog entsetzt die Luft ein. Auch meine Mutter starrte mich an, als müsste sie gerade erschüttert zur Kenntnis nehmen, welch großer Unbekannter ihr eigener Sohn war.
    Marie-Luise schaltete sich ein. »Nun lass es gut sein, bitte. Jeder zweite Berliner ist ein Schlesier, heißt es. Diese Lügengeschichten fliegen uns schneller um die Ohren, als wir rennen können.«
    »Ich wollte euch nur zu interessanten Gesprächspartnern machen. Wo kommen Sie eigentlich her, Frau Huth? Aus Berlin?«
    »Aus Graudenz in Pommern. Ich war eine Goethe-Schülerin.«
    Ich drehte mich kurz um. »Na, sehen Sie. Passt doch.«
    Vor uns tauchte das Haus Emeritia auf. Ich hielt am Straßenrand gegenüber.
    »Sie haben keine Ahnung, Herr Vernau«, sagte Frau Huth. »Keine Ahnung.«

27
    In der Luft hing noch der Duft von Braten, Rotkohl und Savon de Marseille. Doch der Speisesaal war leer, nur zwei Küchenmädchen wechselten gerade die Tischdecken aus und räumten das letzte Geschirr ab. Hinter einer großen Schwingtür klapperten Töpfe. Ich geleitete meine kleine Reisegruppe zum Empfang, bat sie, Platz zu nehmen, und machte mich auf die Suche nach Frau Wittich. Ich fand sie im Garten hinter dem Haus, wo sie einer älteren Dame im sportlichen Golfdress beim Rasenschach Züge ins Ohr flüsterte, obwohl diese mit Pauken und Trompeten verlieren würde. Ihr Gegner war ein hochgewachsener Mann mit geradem Rücken und den zackigen Bewegungen eines ehemaligen Soldaten, der sich dandymäßig einen Wollschal um den Hals geschlungen hatte. Es war kühl, aber alle, die sich im Freien

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