Versunkene Gräber - Roman
eingestehen muss. So sehe ich Alina, Beata, Witold und Tadeusz mit Friedel im Apfelbaum der Jeschkes, sie spielten gemeinsam, und ihr Jauchzen klingt immer noch in meinen Ohren. Ich sehe Eugeniusz, Wojciech und Krzysztof, die jeden Freitag ihren Lohn bekamen – und deine sorgenvolle Stirn, wenn es für uns kaum reichte. In Odereck hatten sie Fremdarbeiter auf den Feldern, aber wir konnten all die Jahre die Unseren halten und ernähren. Magda sagt, sie reden immer noch gut von uns, die Männer vom Weinberg. Allerdings nur, wenn keine Miliz in der Nähe ist, denn gut von Deutschen zu reden kann auch für Polen recht gefährlich werden. Dennoch tröstet der Gedanke, nicht von allen gehasst zu werden, weil man eine deutsche Mutter hatte.
Zygfryd kann niemanden schützen, sagt Magda. Wir haben das Recht in unvorstellbarem Maße gebrochen. Nun gibt es auch kein Recht mehr für uns. In der Dunkelheit meines Verstecks klingen ihre Worte wie ein Todesurteil. Doch es gibt Hoffnung, so meine ich. Es gibt Gerüchte. Wie zwitschernde Spatzen fliegen sie von einem zum anderen. Denn nicht nur die Deutschen leiden. Auch die vielen Heimatlosen aus dem Osten, alles Polen, die brutal aus ihrer Heimat vertrieben wurden und nun ebenfalls ihrer gesamten Habe beraubt und geschunden ankommen. Der Hunger ist groß, die Verzweiflung jedoch übertrifft alles. Der Ruf nach Recht wird laut und lauter. Es heißt, die Sieger würden sich treffen, in Potsdam, noch in diesen heißen Sommerwochen, und dann würde alles geregelt.
Dann wird es ruhiger werden, dann wird der Frieden endlich, endlich kommen. Wir werden aufbauen, was zerstört wurde. Unsere Familien finden wieder zusammen, und jeder wird einen Platz haben, der seinen Fähigkeiten entspricht. Wir werden vereint sein, eines Tages. Was verloren ist, kann ersetzt werden. Ich kaufe dir ein Fuder weiße Leinentücher, goldene Spangen und seidene Schuh. Wir haben alles, was wir für einen Neuanfang brauchen. Wenn Frieden ist, werden alle nach ihren Schätzen graben. Und wir, wir beginnen einfach da von vorne, wo unser Urahn Johannes einst begann, als er Breslau verließ, in Königsberg sein Glück machte und mit seiner Hochzeitskiste in dieses schöne Fleckchen Erde kam. Hier soll mein Weinberg sein, das waren seine Worte. Mag sein Vermächtnis auch in diesen Tagen nicht allzu viel wert sein, so wird es doch wieder der Grundstock unseres Kellers werden. Bewahre den Schlüssel wohl. Ist auch alles verloren und in Trümmern, Johannes’ Kiste wird die Zeiten überdauern und noch unsere Kindeskinder an die Anfänge der Hagens an der Oder erinnern.
Sag, lieb Rosa, werden im Hamburger Hafen schon wieder Schiffe beladen? Gibt es genug zu essen für euch? Magda hat mir Brot und eine Wurst für den Saphir versprochen. Ich werde ihn ihr geben, wenn sie wiederkommt. Mag sie das Brot und die Wurst vergessen, wenn sie nur diesen Brief in eure Hände bringt.
Ich küsse dich inniglich.
Mein Liebstes, mein Einziges.
Ewig dein Walther
26
»Wie weit ist es denn noch?«
»Wir sind gleich da.«
Ich wartete nur darauf, dass Hüthchen in Mutters Klagelied mit einem Ich muss mal einstimmte. Verkniffen genug sah sie aus. Es war Freitagmittag. Fürs Wochenende hatte der Wetterdienst eine vorsichtige Prognose in Richtung Dauerregen gegeben. Es schien, als wäre die halbe Stadt auf der Flucht in den Süden. Die andere Hälfte wollte einfach nur nach Hause.
Wider Erwarten hielt Hüthchen den Mund. Glücklicherweise. Was ich in den letzten Stunden mitgemacht hatte, würde in einem Vernehmungsprotokoll zum Tathergang wohl mit »verbaler Auseinandersetzung« bis hin zu »Androhung von Gewalt« beschrieben werden. Ich hatte Hüthchen nicht bedroht. Trotzdem tat sie, als würde ich meine eigene Mutter galant aufs Schafott begleiten und hätte auf den Stufen auch noch eigenhändig einen roten Teppich ausgelegt. Die Diskussion gab einen Vorgeschmack darauf, was mich erwartete, wenn es eines fernen Tages wirklich ernst würde.
»Ins Heim.«
Hüthchen starrte aus dem Fenster. Um ihren herben Mund hatte sich ein Zug gegraben, den man allenfalls bei Bankrotteuren zu sehen bekam, die ihrem gepfändeten Zweitwagen hinterherblickten.
Ich schnaubte. »Ich habe es euch jetzt stundenlang erklärt. Frau Huth, wenn Sie nicht wollen, dann müssen Sie nicht.«
» Ich werde Ihre Mutter nicht alleine lassen«, zischte sie.
Wir fuhren im Stop-and-go die Clayallee hinunter. Zehlendorf begann behäbig zu werden. Rechts der
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