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Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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sie.
    Sie griff nach seinem Block. Und las die Notizen. Wenn sie das Gekritzel richtig verstand, hielt sie es nicht für abwegig, dass die Frau sich etwas antun könnte.
    »Unsinn«, sagte Süden.
    »Wieso hast du die Familie nicht herbestellt?«
    »Die Frau ist bald wieder da.«
    »Soll das ein Baum sein?« Sie gab ihm den Block zurück. Und er hielt ihr die Kaffeetasse hin.
    Wieder klingelte das Telefon.
    »Soll ich deinen Mantel aufhängen?«
    »Mir ist kalt.«
    Sonja ruckte auf dem Drehstuhl hin und her. Schob ihre Mütze beiseite. Und griff zum Hörer.
    Süden riss die beiden Zettel, die er beschrieben hatte, aus dem Block. Drehte sich zum Computer. Und tippte seine Aufzeichnungen ab.
    »Vermisstenstelle, Sonja Feyerabend.«
    Schon lange hatte sie es sich abgewöhnt, nur ihren Familiennamen zu sagen. Manche Anrufer hatten geglaubt, sie würde sich einen Scherz erlauben.
    Eine Stunde später machten sich Sonja Feyerabend und Tabor Süden auf den Weg zu einem Lokal im Stadtteil Sendling. Die Kneipe hieß »Glücksstüberl«. Eine der beiden Wirtinnen war verschwunden. Sie war erwachsen, das »freie Bestimmungsrecht« erlaubte es ihr zu gehen, wohin sie wollte. Frühestens nach zwei bis drei Tagen hätte es für die Polizei Sinn, mit der Suche zu beginnen.
    Das erklärten die Kommissare der anderen Wirtin, der Freundin der Verschwundenen. Diese hieß Ariane Jennerfurt.
    Und während der zwei bis drei Tage, in denen niemand nach ihr suchte, ging sie verloren, in einer Welt, von der sie geglaubt hatte, sie sei ihr für alle Zeit entkommen.

2
    I m vierten Stock des Dezernats gegenüber dem Südeingang des Hauptbahnhofs stand ein Mann am Fenster. Und blickte hinunter auf das Chaos. Eine Straßenbahn blockierte die Kreuzung. Autofahrer hupten. Fußgänger trommelten wütend auf Kühlerhauben, weil sie zwischen den wartenden Fahrzeugen nicht durchkamen. Radfahrer klingelten sich die Daumen wund.
    Und die Stadtstreicher feuerten alle lautstark an. Seit elf Jahren verfolgte Karl Funkel vom Fenster seines Büros aus dieses Schauspiel. Beim ersten Mal, bildete er sich ein, sah er noch alles auf einmal. Dann nicht mehr. Dann musste er länger hinsehen. Nicht, dass er mit dem einen Auge, das ihm geblieben war, besser sehen konnte. Was ihn manchmal wunderte. Immerhin bildete er sich ein, heute geduldiger hinzusehen. Vielleicht auch intensiver.
    Doch was sah er schon den ganzen Tag, wenn er nicht gerade eine Pause machte? Akten. Schriftstücke. Seine Kollegen. Gewohnte Bilder. Vertraute Gesichter.
    Vor vier Jahren wurde der Kriminaloberrat von einem drogensüchtigen Dealer bei dessen Festnahme schwer verletzt, die Netzhaut seines linken Auges irreparabel zerstört. Seither trug Funkel eine schwarze Augenklappe. Und sonntags, wenn er in der Kirche saß, was er regelmäßig zu tun pflegte, empfand er einen stillen Schmerz darüber, dass er nur noch ein Auge hatte für das Licht der Welt. Aber er lebte in der Gegenwart. Der Minister hatte ihm ausdrücklich erlaubt, weiter im Dienst zu bleiben. Und wenn Funkel nach einer Dienstbesprechung zu einem Kollegen sagte: Ich möchte Sie unter vier Augen sprechen, schmunzelten alle. Auch er.
    »Fertig meditiert?«
    Funkel drehte sich um. Tabor Süden stand in der Tür. Die Lederjacke über der Schulter, das weiße Hemd bis zum Hals zugeknöpft.
    »Morgen«, sagte Funkel.
    »Morgen.«
    In zehn Minuten begann die erste Sitzung. An diesem Montag nur in kleinem Kreis.
    »Ich hab deine Berichte gelesen«, sagte Funkel. Und zog sein rotes Sakko an, das über der Stuhllehne hing. »Die Sachen mit der Wirtin und diesem Maler sind eigenartig.«
    »Ja.«
    Funkel kratzte sich an der Oberkante seiner Augenklappe. Sah sich um. Lächelte flüchtig. Und ging zu einem Aktenschrank.
    Auf den stellte Veronika, seine Sekretärin, regelmäßig einen kleinen Topf mit Basilikum. Niemand verstand, wieso. Wenn die Blätter vertrocknet waren, warf Veronika den Topf weg.
    Und stellte einen neuen hin.
    Aus dem niedrigen Schrank holte Funkel eine Pfeife, ein schwarzes Tabaksäckchen und Streichhölzer. Er hatte die kuriose Vorstellung, er würde weniger rauchen, wenn er die Utensilien außer Sichtweite versteckte. Und manchmal vergaß er tatsächlich, wo er sie hingelegt hatte. Dann fragte er Veronika. Die wusste sofort Bescheid.
    »Wo ist Veronika?«, fragte Süden. Sie verließen das Büro. Und gingen in den zweiten Stock hinunter.
    »Beim Arzt«, sagte Funkel.
    »Ist sie krank?«
    »Sie ist die einzige

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