Viele Mütter heißen Anita
den Armen von Concha und Riogordo versuchte er die ersten Schritte, ungelenk, schwach, mehr hängend als gehend. Er tastete sich vor, setzte die Füße wie ein Kind, das Laufen lernt, stolperte über sie und verzerrte lachend sein Gesicht, weil er sich schämte, so dünn und kraftlos zu sein.
Aber beim zweitenmal ging es schon besser … und drei Tage später fuhr Concha Juan in den Garten in die Sonne, in diese schon etwas kühlere Sonne, die nach Winter aussah und schräger am Himmel stand, der noch immer blau und wolkenlos war. Sie saßen zwischen den grünen Hecken … Juan in seinem Rollstuhl und Concha auf einer der weißen Bänke.
Moratalla beobachtete sie oft von seinem großen Fenster aus und kam sich schlecht vor. Er dachte an Anita, und je weiter er Abstand von der Operation gewann, um so größer, gewaltiger, einmaliger empfand er dieses Opfer der Mutter. Heute wußte er, daß Anita mit dem Wissen sich auf die Bahre legte, in den Tod zu fahren. Und sie hatte gelächelt und sogar Pedro gesegnet und getröstet, als sei es nur ein kleiner Gang, den sie antrat. Das war etwas, was selbst Moratalla nicht begriff. Konnte dies eine Mutter tun, war die Liebe so groß, daß sie lächelnd in den Tod gehen konnte? Und war es nur Anita, die dieses Opfer brachte, oder würde es mehr Mütter geben, die nicht zögerten, ihr Leben für ihr Kind zu geben?
Vielleicht viele Mütter?
Alle Mütter?
Moratalla schloß die Augen. Er hatte nie ein Kind gehabt, seine Frau starb jung … aber wenn sie ein Kind gehabt hätten, wenn dieses Kind die Krankheit Juans im Herzen getragen hätte, was hätte er dann getan? Würde er gezögert haben, sich auf den Operationstisch zu legen? Wenn es der letzte Ausweg gewesen wäre?
Es war eine Frage, auf die er keine Antwort fand, weil er nie das Gefühl gekannt hatte, am Bett eines sterbenden Kindes zu stehen, seines Kindes, an dem die ganze Hoffnung seines Lebens hing. Und doch … Moratalla nickte vor sich hin … er hätte es getan, es mußte vielleicht so sein im großen Gesetz der göttlichen Fügung, daß die Eltern das Leben der Kinder in sich tragen, nicht einmal, sondern immer, bis der große Ruf sie abruft von ihrer Pflicht.
Welch ein Blick in den Himmel, dachte Moratalla erschreckt. Sollte es wirklich wahr sein? Sollten viele Mütter Anita heißen? Er sah Juan und Concha zu, wie sie im Garten miteinander scherzten. Da wandte er sich ab und ging zu seinem Schreibtisch zurück, wo auf langen Bogen, eng beschrieben, seine Rechtfertigung lag, seine Verteidigung, die er in langen Nächten niedergeschrieben hatte und die er doch nie dem Gericht vorlegen würde, weil er seine Tat menschlich sah und nicht mit den unerbittlichen Augen des ewigen Gesetzes.
Moratalla blickte auf. In der Ecke des kleinen Zimmers unterhielten sich die Polizisten. Im Nebenraum rauschten die Stimmen der Zuhörer des Prozesses. Er hörte es durch die Wand und die Tür, die ihn von der hölzernen Barriere, hinter der er in einigen Minuten stehen mußte, noch trennten.
Ruhig blickte er auf die Uhr. Schon eine halbe Stunde über die festgesetzte Zeit. Warum begann denn der Prozeß nicht? Wollte man die Sensation durch ein langes Warten noch steigern? Sensation … es war ein bitteres Wort. Man würde ihn filmen, wie er sich verteidigte, er, der große Moratalla, der einmal im Leben Pech hatte und nun als Fanal gebraucht werden sollte, daß die Kunst des Arztes eine Grenze hat … noch hat, eine Grenze, die vor hundert Jahren beim Blinddarm lag und heute beim Herzen …
Und morgen? Was wird morgen sein? Wo liegen die Grenzen da? Dann wird der Krebs wie ein Blinddarm sein, und die multiple Sklerose wie eine Grippe und die Lepra wie ein Furunkel. Aber dann gibt es keinen Moratalla mehr, der einmal dem Scharfrichter Murcia Sevilla die Hand gab und dann die Garotte an seinem Hals spürte.
Der Mörder Moratalla, der einer alten Frau aus Solana del Pino das Herz verkleinerte, um ihren Sohn, dem neuen Genie Spaniens, das Leben zu retten.
Moratalla faßte in seine Tasche, um eine Zigarette herauszuholen. Aber dann fuhr seine Hand wieder heraus … man war ja ein Verbrecher, und man hatte ihm alles abgenommen, sogar die Hosenträger und den Leibgürtel, wie es Vorschrift war, um Selbstmorden vorzubeugen. Ein Moratalla und Selbstmord? Aber es war Vorschrift, und wenn ein Mensch in die Vorschriften gepreßt wird, ist er kein Name und kein Rang und kein Mensch mehr, sondern ein Ding, auf das der Paragraph paßt … Mit
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