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Viele Mütter heißen Anita

Viele Mütter heißen Anita

Titel: Viele Mütter heißen Anita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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es Juan einpflanzte. Erwarten Sie von mir keine Sensation, Doktor Manilva. Ich werde nur das sagen, was ich weiß und was wahr ist. Ich habe versagt … warum soll ich das nicht bekennen?«
    Dr. Manilva verließ kopfschüttelnd das kleine Zimmer und griff auf dem Flur den nervösen Dalias auf, der den Beginn der Verhandlung nicht mehr erwarten konnte.
    »Schrecklich, diese Warterei! Moratalla muß ja zerplatzen vor Ungeduld. Was macht er, Doktor?«
    Manilva schürzte die Unterlippe. »Er macht faule Witze. Er sagt sich wie ein Schulkind vor, daß er schuldig ist.«
    »Der Junge ist wahnsinnig!« Dalias rang die Hände. »Ich werde beantragen, die Verhandlung zu vertagen, weil Moratalla nicht vernehmungsfähig ist.«
    »Damit haben Sie bei Campo kein Glück. Er kennt Moratalla zu gut. Wir müssen eben – wie alle hier – abwarten, was kommt.«
    Drei Monate sind nun vorbei, dachte Moratalla. Ein Vierteljahr seit dem Tode der kleinen, armen Anita. Wie die Zeit doch rast. Als sie begraben wurde, auf dem kleinen Friedhof in Solana del Pino, brach der riesige Pedro am Grab zusammen und wollte sich in die Grube stürzen. Wir waren alle dabei, Dr. Osura streute Blumen über den kleinen Sarg, und der Dorfpfarrer fand Worte, die ich noch nie gehört habe. Das ganze Dorf war auf dem Friedhof, und Ricardo Granja hielt das Seil, mit dem der Sarg in die Grube gelassen wurde.
    Er, Moratalla, stand im Hintergrund der großen Gemeinde. Ein Ausgestoßener, der Mörder Anitas, der Mann, dessen Messer ihr Herz zerschnitt. Und auch Juan fehlte. Er lag in der weißen, hellen Klinik an der Chaussee nach Barajas und wartete darauf, daß die Mutter ihn besuche. Dr. Osura hatte ihm kurz vor der Abfahrt zum Begräbnis noch einen lieben Gruß von der Mutter bestellt, und seine Stimme hatte geschwankt, als er Juans glückliches Lächeln sah. Aber dann erzählte der Contes de la Riogordo einige Witze, und Juan vergaß, daß Dr. Osura so traurige, große und doch müde Augen hatte.
    Zum erstenmal sah Moratalla an diesem Tag den Hof der Torricos in den Bergen der Santa Madrona. Das kleine Haus mit der großen Küche, wo an dem Nagel noch Anitas alte, fleckige Schürze hing. Er sah den ovalen Schweinetrog, den sie jeden Morgen voll Kleie kochte, das Bett Juans in der Nebenkammer, den Kessel mit Wasser, der noch auf dem erkalteten Herd stand. Das Vieh war bei den Nachbarn, die Felder waren notdürftig von ihnen mitversorgt, denn der Oktober war wieder trocken, und der Brunnenheilige von Solana del Pino spie nicht mehr Wasser, was immer ein böses Zeichen ist. So sparte man natürlich an dem, was einem nicht selbst gehört … aber Pedro war es gleich, er sah es gar nicht durch die Tränen, die seine Augen trübten. Moratalla sah die Höhle, in der Juan seine ersten Bildhauerarbeiten heimlich und scheu verbarg, er sah die Weiden, wo er träumend lag, und er schaute von der Bank vor der Tür des Hauses hinab auf die Wege durch die Berge und empfand es mit, wie Anita hier oft gehockt hatte, die Hände in den Taschen der Schürze, und wartete, bis einer der Söhne sichtbar wurde, ihr zuwinkte oder mit vor den Mund gehaltenen Händen rief: »Ich habe Hunger! Hunger!«
    In diesen Augenblicken wußte Moratalla, daß es keinen anderen Weg für ihn gab als das Sichbeugen vor dem Gesetz. Allein ging er durch die Berge, und Dr. Osura, der ihn suchte, fand ihn, wie er am Wiesenrand hinter dem Haus saß und vor sich hinstarrte.
    »Alles atmet ihre Gegenwart«, sagte er leise zu Dr. Osura, der sich neben ihn setzte. »Wo ich hinsehe, sehe ich die Hand dieser alten Mutter. Ich habe das noch nie so stark gefühlt wie jetzt. Oft, wenn ein Mensch in der Klinik starb, stand ich vor dem Bett und dachte darüber nach, welch ein Leid dieser Tod hinterläßt. Manchmal starb ein Vater von sechs Kindern, einmal eine Mutter von elf Kindern, alle waren sie klein, keins über siebzehn Jahre. Und sie standen dann um die Tote und weinten und verstanden Gott und dieses Leben nicht mehr. Ich habe das oft mitgefühlt und manchmal den Ärmsten unter einem anderen Namen mit Geld über die ersten, großen Sorgen hinweggeholfen. Mit Geld, Doktor Osura. So verblendet ist man, wenn man nicht selbst so tief fühlt. Ich habe das einmal getan … damals, als meine Frau starb und ich sie nicht retten konnte. Das ist lange her. Ich wurde hart gegen mich und auch gegen andere. Und heute stehe ich wieder vor dem Wunder, mit dieser alten, armen Anita zu fühlen, als stünde ich vor dem Bett

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