Viele Mütter heißen Anita
und verbarg wieder das Gesicht in den Händen, als schäme sie sich ihrer Neugier, die heute ein Menschenleben retten konnte.
Der Generalstaatsanwalt erhob sich und begann sein Plädoyer. Es war kurz und nüchtern, und sein Antrag lautete, Moratalla wegen Mordes zum Tode durch die Garotte zu verurteilen.
Als sich Dr. Manilva erhob, ging ein Raunen durch den Saal. Sechs Stunden dauerte der Prozeß schon, und in das blutige Rot der untergehenden Sonne hinein, in dieses Blut, das man von Moratalla forderte, fielen die Worte des Mannes, der bis jetzt geschwiegen hatte. Hoch aufgerichtet stand Dr. Manilva vor der Barriere, hinter der Moratalla saß und vor sich zu Boden blickte.
Der Anwalt sprach langsam, er schilderte noch einmal das Leben des Arztes und die große, die einmalige Operation, mit der er Spanien und der Welt einen großen Künstler rettete, ein Genie, das noch gar nicht zu überblicken sei, und dafür ohne seinen Willen eine alte, kranke Frau opferte, die dieses Opfer als die schönste Erfüllung ihres langen Lebens sah.
»Sie werden es nicht glauben, Herr General!« rief er. »Sie sind Soldat, Sie kennen nur einen Heldentod auf dem Schlachtfeld, mit der Waffe in der Hand. Aber hier, hier haben Sie ein Heldentum der Stille, ein Heldentum einer Mutter, wie es herrlicher nicht sein kann! Sie glauben, daß diese Anita Torrico eine Ausnahme war, daß sie handelte unter dem Einfluß Moratallas, unter dem Druck der Krankheit, daß sie nicht Herr ihres Willens war! Oh – gehen Sie doch hinaus in die Welt! Gehen Sie nach Frankreich, nach Deutschland, nach Italien, fahren Sie irgendwohin in diese Welt, wo zweieinhalb Milliarden Menschen leben, sprechen sie jede Mutter, wenden Sie sich doch an die Mütter, die jetzt hier in diesem Saal sitzen und weinen … Warum weinen Sie denn? Fragen Sie sie doch! Gehen Sie zu einer Chinesin, zu einer Negerin, zu einer Mongolin, sprechen Sie mit den Müttern, ja, fragen Sie Ihre eigene Mutter, wenn sie noch leben sollte: Was würdest du tun, wenn dein Sohn stirbt, und du kannst ihn retten, indem du dein Leben gibst?! Glauben Sie, Ihre Mutter und die Mütter unserer Menschheit würden zögern, Ihnen eine Antwort zu geben? Ich sage Ihnen, daß das Herz einer Mutter eines der großen Geheimnisse Gottes ist, das wir nie mit dem Verstand durchdringen! Und ich sage Ihnen, daß nicht nur Anita Torrico ihr Herz gab, sondern daß viele Mütter, daß alle Mütter Anita heißen …!«
Campo saß in sich zusammengesunken hinter seinen Akten. Als Dr. Manilva schwieg, richtete er sich auf, als schmerze ihn jede Bewegung. Sein Blick irrte hinüber zum Tisch, an dem blaß der Ankläger saß.
»Haben Sie noch etwas zu sagen?« fragte er leise.
Bleich stand der Generalstaatsanwalt vor dem Fenster, hinter dem die Sonne unterging. Er hob die Hand, als wolle er schlagen, aber dann ließ er sie sinken und senkte den Kopf.
»Ja«, sagte er deutlich in die Stille hinein. »Ich beantrage den Freispruch …«
Moratalla sprang auf. Seine Stimme ging unter in dem Jubel, der ihn wie ein einziger Schrei umgellte. Seine Lippen bewegten sich, er riß die Arme empor … aber niemand hörte ihn. Man hob ihn aus der Barriere, und die Polizei war machtlos, soviel Campo auch schellte und mit Strafen drohte.
Auf einmal stand Dalias vor ihm, der kleine, dicke Dalias, und er drückte Moratalla die Hand und wandte sich ab, weil er sich schämte, gerührt zu sein.
Als der Freispruch verkündet wurde, stand Moratalla neben Juan. Er hatte den Jungen umfaßt und an seine Brust gedrückt, und er streichelte seine Wangen und die tränennassen Augen, während Campo las, und er hörte gar nicht die Worte, die ihm galten, denn sein Kopf war leer bis auf einen Satz: »Das Herz einer Mutter ist eines der großen Geheimnisse Gottes …«
Und er war traurig, daß er seine Mutter nicht gekannt hatte und er einer der Einsamen war, die durch die Welt gehen.
Denn der Schmerz des Lebens ist die Wiege der Größe …
Solana del Pino ist ein kleiner Ort am Fuß der Santa Madrona, und in seiner Mitte steht auf dem Marktplatz ein alter Brunnen mit ei nem Heiligen darauf. Jeden Morgen kommen die Bauern und sehen nach, ob er noch Wasser speit, denn es ist schlimm, wenn er versiegt, dann kommt die große Dürre und die Not, und es ist gut, wenn er Wasser speit, denn dann weiß man, daß die Felder trinken können und die Ernte in die heiße Sonne schießt, diese knappe, den Steinen abgerungene Ernte, die leuchtend zwischen den
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