Vier Arten, die Liebe zu vergessen
und
Vorgesetzten, zog sich zurück aus den Umweltprojekten, die er unterstützt
hatte, verbrachte seine Freizeit mit Videos auf Youtube und dem Hören von Musik
und strebte nach einiger Zeit mit Gründlichkeit und Umsicht die Diagnose
»Burnout« an, um endlich dieser Tretmühle zu entkommen.
Er hörte nicht auf, Corinna zu lieben, obwohl ihm klar war, dass sie
nie wieder zu ihm zurückkehren würde. Die Verachtung, die sie ihn hatte spüren
lassen, war endgültig und vernichtend. Aber nicht einmal in seiner Phantasie
lieà sich irgendein Bild zeichnen, das es mit der Erinnerung an Corinna hätte
aufnehmen können.
An die vier Tage in Venedig dachte er nur noch selten, aber wenn,
dann erinnerte er sich nicht nur an den Gegenwind, der ihm bei fast allem, was
er gesagt hatte, ins Gesicht geschlagen war, sondern auch an die überraschten
Gesichter der anderen, als er den Blumenstrauà mitgebracht hatte. Und an die nette
Nachbarin. Und die Nachtigall am Mittwochmorgen.
~
BERND war beflügelt nach Hause
gekommen, hatte sein Geschenk, ein auf dem Flughafen gekauftes Schultertuch von
Hermès, überreicht und sich gewundert, dass seine Frau ihn so einsilbig
empfing. Wie ein Eiswürfel das Rückgrat aufwärts fühlte sich der Gedanke an,
Thomasâ Prophezeiung habe sich bewahrheitet, sie habe etwas herausgefunden, er
müsse sich für irgendeinen Seitensprung, womöglich gar den frischesten, den in
Venedig, rechtfertigen, sich entschuldigen, versprechen, so etwas nie wieder zu
tun, als Kompensation eine Reise buchen oder den Bau des Wintergartens endlich
erlauben, aber es stellte sich heraus, dass ihr nach einer Routineuntersuchung
eröffnet worden war, sie habe Leukämie.
Er gab sich redlich Mühe, den Mutigen zu spielen, um ihrer
Verzagtheit und Angst etwas entgegenzusetzen, aber es gelang ihm nicht sehr
gut. Sie driftete mehr und mehr in eine Verzweiflung ab, die sich irgendwann auch
auf ihn übertrug, die Kinder zusehends unsicherer machte und schlieÃlich dazu
führte, dass er sich um zusätzliche Arbeit riss und so spät wie möglich nach
Hause kam.
Zwar war die Prognose nicht ganz schlecht, die Blutgruppe seiner
Frau war nicht selten, also hatte das Warten auf eine Knochenmarkspende
durchaus Aussicht auf Erfolg, aber das verlegen bedauernde Abrücken und die
Ratlosigkeit ihrer Umgebung verstärkten die Lähmung der Familie, und erst als
die frisch geschiedene Stiefschwester seiner Frau zu ihnen zog und sich um
alles kümmerte, kam wieder so etwas wie Optimismus auf und verlor der heimische
Alltag allmählich seinen Schrecken.
Bernd nahm mehr und mehr Arbeit mit nach Hause, brachte die Kinder
immer öfter zur Schule, holte sie ab, kaufte ein und machte sich nützlich, wo
er konnte und wo man es von ihm erwartete.
Der Zustand seiner Frau besserte sich, ihre Hoffnung erstarkte, und
die Blicke, mit denen sie ihn gelegentlich bedachte, waren nicht mehr stumpf
und voller ungestellter Fragen, sondern immer öfter wieder wie früher: voller
Zuneigung und manchmal sogar Bewunderung.
Noch während Bernd sich fragte, ob die Krankheit ihm nun das
Fremdgehen verbot oder erst recht erlaubte, hatte er schon die Stiefschwester
so für sich eingenommen, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis man die
Gelegenheit eines Arztbesuchs am Vormittag, wenn die Kinder aus dem Haus waren,
ausnutzen würde.
An Venedig dachte er für lange Zeit nicht mehr. Doch irgendwann, als
ihn der Anblick des Hinterns einer jungen Mutter in bestickten Jeans an die
fordernde Sabine erinnerte, fielen ihm die Nachtigallen ein, das berauschende
Panorama der Stadt (der Hammer) und Michaels Begeisterung für die Klarheit des
Bellini-Bilds. Er musste lächeln, als ihm sein eigener Satz einfiel: Ich sattle
um auf Raviolischneider.
Und auf einmal war ihm alles wieder so nah, dass er sich vornahm,
bald wieder für eine Woche dorthin zu reisen. Vielleicht konnte er seine Frau
mitnehmen. Oder ihre Stiefschwester.
Dazu kam es dann allerdings nicht mehr, denn ein Kurierfahrer, der
sich nach seiner heruntergefallenen Zigarette bückte, ohne den Fuà vom Gas zu
nehmen, erfasste Bernd vor der Schule seiner Kinder und schleuderte ihn auf
einen parkenden Toyota, auf den er gleich darauf selbst krachte. Der Notarzt
konnte nichts mehr für Bernd tun.
~
THOMAS hatte den
entscheidenden Anruf seines Anwalts abgewartet, bevor er nach
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