Vier Jungs auf einem Foto (German Edition)
1
Als sie den Friedhof verlassen haben, bleiben sie auf dem Gehweg stehen, als müssten sie erst in Ruhe entscheiden, wie es von jetzt an weitergehen soll. Fernando sieht die anderen an. Mauricio schaut zu Boden, doch Ruso erwidert seinen Blick. Er hat Tränen in den Augen.
So fühlt es sich also an, dass Mono tot ist. So ungefähr hat Fernando es sich auch vorgestellt in den vergangenen acht Monaten, wenn er nachts wach lag. Und doch ist es ganz anders. Die Realität ist einfacher, grundlegender. Sie ist das, was ist. Diese Wintersonne, die sich auf der Seite von Castelar versteckt, die hohe Friedhofsmauer, der lange Gehweg, der zur Straße führt, die Lastwagen, sie drei, wie sie unschlüssig herumstehen.
Ruso deutet mit dem Kinn in Richtung Avenida Yrigoyen. »Trinken wir ’nen Kaffee?«
Mauricio nickt, geht mit Ruso los. Fernando zögert. Er will jetzt keinen Kaffee. Aber genauso wenig will er hier stehenbleiben oder zurück auf den Friedhof. Gar nichts will er.
Also steckt er die Hände in die Hosentaschen und folgt den beiden, holt sie ein. Auf der anderen Straßenseite ist ein schmieriger Imbiss, wo es neben Hamburgern und Hotdogs auch Kaffee gibt. Ruso geht zur Theke, um zu bestellen, während die anderen sich an einen Tisch am Fenster setzen. Mauricio sieht sich um. Aus einem der Getränkekühlschränke tröpfelt Wasser, das Fensterbrett ist schmutzig. An die Wand hat jemand einen üppig belegten Hamburger gepinselt. Darunter steht in großen orangefarbenen Buchstaben: Paty komplett, 8 Pesos .
»Was für ein versiffter Laden«, sagt Mauricio.
Fernando lächelt matt und nickt. »Mono hätt’s gefallen.«
Fernando bemerkt, dass er zum ersten Mal in der Vergangenheitsform von seinem Bruder gesprochen hat. In dem Moment stellt Ruso die Plastikbecher vor ihnen ab. Der Tisch wackelt, und die Kaffees schwappen über, besonders der von Mauricio. Ruso geht zurück zur Theke, um nach einem Lappen zu fragen.
»Wenn er’s erst mal realisiert, dann …«, murmelt Mauricio. »Hat er nämlich noch nicht.«
»Nein, hat er nicht«, stimmt Fernando zu und muss an die Beerdigung denken.
In den letzten Tagen hat Ruso zwar ein paar Mal geweint, ist aber die ganze Zeit unruhig hin und her gelaufen und hat es tunlichst vermieden, sich dem Sarg auch nur zu nähern. Ob es dadurch weniger schmerzhaft für ihn war? Nützt es was, wenn man die Dinge verdrängt?
Fernando fragt sich, ob man Schmerz irgendwie messen kann. Wiegen, vergleichen. Wer von ihnen drei leidet am meisten? Noch so eine Frage: Wenn man verwandt ist, leidet man dann mehr? Wenn ja, dann müsste er am meisten leiden. Die anderen sind nur Monos Freunde. Oder waren Monos Freunde. Er aber ist sein Bruder. War sein Bruder. Diese verflixten Zeitformen.
Ruso war Monos bester Freund. Seit der fünften Klasse. Was zählt mehr? Dass man ein Leben lang der Bruder war? Oder dass man dreißig Jahre lang der beste Freund war? Schwer zu sagen. Letztlich auch egal.
»Was ist? Was starrst du den Tisch so an?«
Mauricio reißt ihn aus seinen Gedanken. Lenkt sie in eine andere Richtung. Fernando schüttelt den Kopf und denkt, dass Mauricio derjenige ist, der am wenigsten leidet. Weil er zu egoistisch ist, um sich selbst zu bedauern, weil er es für Zeitverschwendung hält. Kaum hat Fernando das gedacht, bereut er es. Als wäre dieser Gedanke zu schäbig für einen solchen Moment.
»Nichts. War grad nur ganz woanders.«
Er nimmt einen großen Schluck und verzieht das Gesicht: Der Kaffee schmeckt bitter, wie stundenlang warmgehalten. Ein Kuhtransporter rattert scheppernd vorbei. Sie sehen nach draußen zur endlosen Kolonne aus Autos, Bussen und Lastwagen.
»Gäbe es einen Wettbewerb für die hässlichste Straße der Welt, die Yrigoyen würde ihn gewinnen«, sagt Mauricio.
»Gut möglich«, erwidert Fernando und trinkt seinen Kaffee aus.
Mono
Alejandros Spitzname »Mono« – Affe – hatte nichts mit seinem Aussehen zu tun, denn er war eher blond, blass und unbehaart. Er ging auch nicht gebückt, sondern im Gegenteil betont aufrecht, trotz seiner geringen Körpergröße. Den Spitznamen hatte Mauricio ihm verpasst, der schon als kleiner Junge einen treffenden, aber gnadenlosen Humor besaß, und zwar an dem Tag, an dem Alejandro – es sollte sein letzter Tag als Alejandro sein – beinahe gestorben wäre.
Es war im Sommer, kurz nach seinem zehnten Geburtstag. Die vier hatten nach dem Mittagessen auf dem Gehweg herumgelungert, im Schatten der großen Trauerweide,
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