Vier Zeiten - Erinnerungen
Verbrechen unter dem Nationalsozialismus kommen konnte. Am Ende des Krieges hatte ich mit meinen fünfundzwanzig Jahren ein Lebensalter erreicht, in dem ich noch selbst zu den Fragenden und doch auch schon zu den Befragten gehörte. Mir liegt es besonders am Herzen, über die Erfahrungen dieser Zeit zu berichten. Sie sind mir nicht weniger wichtig als die Dinge, die mich Jahrzehnte später in die Öffentlichkeit führten.
III.
Die dritte meiner vier Zeiten erlebte ich in der alten Bundesrepublik Deutschland. Es kam zur Befreiung von der Hitler-Diktatur. Zugleich brachten die ersten Nachkriegsjahre schweres menschliches Leid für ungezählte Menschen. Man lese nur, um ein Beispiel zu nennen, die Aufzeichnungen des Arztes Hans Lehndorff über die Jahre 1945 bis 1947 in Ostpreußen.
Es gab kein neues Versailles und keine Wiederholung von Weimar. In der Bonner Republik, wie wir sie nennen, wurden wir ein fester Bestandteil der westeuropäischen und transatlantischen politischen Zivilisation. Grundgesetz, soziale Marktwirtschaft und Allianzgefüge waren ihre Kennzeichen. An die Stelle der traditionellen Großmächte mit ihrem prekären Balancesystem waren die Supermächte getreten. Ost-West-Konflikt und Kalter Krieg im atomaren Zeitalter beherrschten auch uns.
Zwölf Millionen Vertriebene und Flüchtlinge wurden aufgenommen und, so gut es ging, neu beheimatet - ein größeres Wunder noch als das berühmte Wirtschaftswunder. Lange wurde das Land von der alten Generation mit ihren Erfahrungen aus Weimar regiert. Sie zeigten wenig Verlangen nach einer Mitwirkung von uns Jüngeren. In einer neu entstandenen, demokratisch egalisierten Gesellschaft erfolgte erst während der späten sechziger Jahre der Abschied von den Alten.
Der Weg in die westliche Partnerschaft mit ihrem Kern in der deutsch-französischen Aussöhnung war das Werk der politischen Führung. Dagegen wurden die Beziehungen zum anderen Teil Deutschlands und zu den östlichen Nachbarn zunächst stärker aus der Gesellschaft selbst heraus entwickelt. Einen erheblichen Anteil daran hatten die Kirchen dank ihrer nie abgerissenen Ost-West-Verbindungen. Dort lagen auch meine eigenen ersten öffentlichen Aktivitäten mit den Schwerpunkten Polen, DDR und Berlin. Erst später wurde ich in politische Ämter gewählt.
Im Zeichen des atomaren Patts wandelte sich die Sowjetunion
allmählich zu einem Sicherheitspartner, auch wenn eine Wiedergeburt des alten Rußland noch nicht zu ahnen war. Die Bipolarität schien weiterzuleben, bis Gorbatschow erkannte, daß gründliche Reformen unausweichlich würden, um seinen Herrschaftsbereich zu stabilisieren und wettbewerbsfähig zu machen. Doch was er damit lostrat, wurde zu einer Lawine der Befreiung von diktatorischer und imperialer Beherrschung. Der Prozeß von Helsinki hatte sie in den Befreiungs- und Bürgerrechtsbewegungen der Ostblockländer vorbereitet. Die Öffnung der Mauer wurde erzwungen. Der Warschauer Pakt löste sich auf. Der Kalte Krieg ging zu Ende. Ohne neuen konstitutionellen Akt wurde Deutschland staatlich vereint. Die Europäische Union wurde auf den Weg von Maastricht geschickt.
IV.
Die vierte meiner vier Zeiten, in der ich als erster Präsident im vereinigten Deutschland amtierte, stellt uns vor die zentrale Herausforderung, in der Freiheit zu bestehen, die errungen ist. Es ist unsere schönste und zugleich unsere schwerste Aufgabe. Noch haben wir sie nicht bewältigt. Bei ihr wird mein Bericht am Ende ausklingen.
Erster Abschnitt
Weimarer Republik
Wurzeln in Württemberg; der Großvater
Mein Leben begann im Zeichen einer dem Auge wahrnehmbaren Spannung. Geboren wurde ich am 15. April 1920 in einer Mansarde des königlichen Schlosses zu Stuttgart, aber nicht als Gast des Königs, sondern unter der roten Fahne, die auf dem Dachfirst wehte.
Die Revolution, die den Ersten Weltkrieg beendete, hatte auch das Königreich Württemberg in eine Republik verwandelt. Sie war recht friedlich verlaufen. Als das Schloß besetzt wurde, gab es Gewalt nur beim Hissen der neuen Fahne, sonst wurde in der Königlichen Residenz nicht das geringste beschädigt.
Nun neigen die Württemberger im allgemeinen ohnehin nicht zu extremen Ausschlägen. Sie suchen den vernünftigen Ausgleich. Auch unter Revolutionären ging es bedächtig und gesittet zu. Ihr letzter König, Wilhelm II., machte es ihnen nicht schwer. Nachdem er am 30. November 1918 in würdiger Form seine Abdankung erklärt hatte, schrieb der führende
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