Vier Zeiten - Erinnerungen
Unabhängigkeit war mehr und mehr einer Verteidigungshaltung gewichen. Man hatte sich in wachsender Sorge um den eigenen Wohlstand eingeigelt. Die »Bürgerlichen« waren allmählich zum parteipolitischen Begriff geworden. Ohne ihr Verhalten hätte dem Kampfbegriff der Klassengesellschaft etwas Entscheidendes gefehlt, auch wenn es nicht eine bürgerliche Klasse gab, sondern, nach Max Weber, allenfalls bürgerliche Klassen. Nicht nur die Monarchie, auch das bürgerliche Zeitalter im herkömmlichen Verständnis war mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende. Bürger im sozialen Sinn begannen sich zu entwickeln.
Meine Familie zählte zu den Bildungsbürgern, nicht den Besitzbürgern. Doch gingen die Spannungen der Zeit natürlich auch an ihr nicht vorüber. Meine Mutter Marianne, 1889 geborene von Graevenitz, entstammte väterlicherseits dem seit Napoleons Zeiten bestehenden württembergischen Zweig einer mecklenburgischen Familie. Ihr Vater war vor dem Krieg württembergischer Militärbevollmächtigter in Berlin, wo meine Eltern 1911 in der Stülerschen Matthäikirche getraut wurden. Zuletzt war ihr Vater Generaladjutant des Königs von Württemberg, mit dem er am 9. November 1918 das königliche Schloß in Stuttgart in Richtung Bebenhausen verließ. Seinen Mitmenschen galt er als ein aufrechter Ritter. Ich habe ihn nicht mehr kennengelernt.
Seine Frau, meine Großmutter mütterlicherseits, kam aus der schwäbischen Kaufmannsfamilie Klotz. Sie war eine schöne Frau, eine von allen Enkeln umworbene und geliebte, zu jedem Ernst und Spiel aufgeschlossene warmherzige Großmutter. Mit meinem ältesten Bruder führte sie eine über zehn Jahre währende Korrespondenz in Form von Versen.
Meiner Mutter war es in ihrer Jugend eher schwergefallen, sich den damaligen gesellschaftlichen Gepflogenheiten anzupassen. Lebenslang hatte sie ein waches soziales Empfinden, einen starken Willen und war streng vor allem mit sich selbst. Vergeblich war der warmherzige Seufzer ihrer geliebten und gemütstiefen Großmutter Klotz: »Willenlos und innig froh - ach, wär’ mein Mariannchen so!«
Dankbar und familienfroh war sie stets, aber gewiß niemals willenlos. Schon mit ihrem Konfirmationsspruch: »Habe deine Lust an dem Herrn. Er wird dir geben, was Dein Herz wünscht«, war sie nicht zufrieden. Es verlangte sie nach Herausforderungen, nicht nach Verheißungen. Bereits als Halbwüchsige suchte sie soziale Nebenbeschäftigungen, betreute Pflegekinder und gab in der Blindenanstalt zwei Mädchen Klavierunterricht. Bälle, zumal Hofbälle, empfand sie als anstößig und ertrotzte sich das in der Familie höchst ungewöhnliche Recht, die Teilnahme an solchen Veranstaltungen abzusagen. Beim Kartenspiel mit ihren Eltern hielt sie mehr oder weniger wahrnehmbar eine ernsthafte Lektüre unter dem Tisch auf den Knien. So las sie zum Beispiel Lily Brauns »Tagebücher einer Sozialistin«. Dieses damals berühmte, sehr persönliche, dramatische, auch heute noch faszinierende Werk stammte von der pazifistischen Tochter des preußischen Generals von Kretschmann, überdies einer Großtante meiner eigenen Frau.
In dem so übereilig und demonstrativ aufblühenden Reich der Vorkriegszeit empfand meine Mutter immer stärker die Diskrepanz zwischen dem ständig zunehmenden Reichtum und wachsender bitterer Armut. Schon in meiner Kindheit habe ich
von ihr zum ersten Mal den allseits bekannten Spruch gehört: »Wer mit zwanzig kein Sozialist ist, hat kein Herz. Wer mit vierzig nicht konservativ ist, hat keinen Verstand.« Er kam ihrer Anschauung der Dinge ziemlich nahe, obwohl er mir später nie sehr eingeleuchtet hat. Denn einen Konservativen ohne ausgeprägtes soziales Empfinden habe ich immer für einen schlechten Konservativen gehalten, wie auch ein Sozialist, allem visionären Drang zur Veränderung der ungerechten Verhältnisse zum Trotz, doch nie schlecht dabei gefahren ist, wenn er prüfte, was es zu bewahren galt. Dem hätte meine Mutter aber gewiß nicht widersprochen.
Es waren die menschlichen und sozialen Impulse, die sie seit ihrer Kindheit leiteten, ohne daß sie deshalb die politischen Theorien studierte oder gar, wie Lily Braun, einen scharfen Bruch mit ihrer Welt auf sich nahm, um Revolutionärin zu werden. Sie konzentrierte sich auf das praktische Tun. Während des Krieges war sie Pflege- und Operationsschwester in Lazaretten. Als dann nach Kriegsende die Frauen erstmals ein Wahlrecht zur Weimarer Nationalversammlung bekamen, beteiligte meine Mutter
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