Vier Zeiten - Erinnerungen
Schwaben, daß sie für ihren beschränkten Horizont zu klug seien. Sie taten sich gar nicht
leicht, die einmal Abgewanderten wieder an ihr Herz zu drücken. Als der weltberühmte Hegel 1831 in Berlin starb, begnügte sich der »Schwäbische Merkur« damit, die amtliche Todesmeldung der »Allgemeinen Preußischen Staatszeitung« wörtlich abzudrucken und anstelle eines würdigenden Nachrufs lediglich drei Worte hinzuzufügen: »aus Stuttgart gebürtig«. Diese entscheidende Tatsache hatte das Berliner Blatt unterschlagen.
Andererseits fehlte es nie an schwäbischem Selbstbewußtsein gegenüber den Preußen. Als König Friedrich Wilhelm IV. 1848 in Frankfurt am Main den mit meinem Urgroßvater befreundeten württembergischen Abgeordneten Rümelin auf die Nennung seines Heimatortes Nürtingen fragte, wo das Nest denn liege, antwortete ihm Rümelin: Auf dem Wege vom Hohenstaufen zum Hohenzollern.
Meine Vorfahren Weizsäcker waren Bürger vom Land. In der Nähe von Öhringen schufen und bewahrten sie, wenn auch mit wechselndem Erfolg, ihre wirtschaftliche Selbständigkeit beim Müllerhandwerk. Es war die überkommene Armut, die die Kräfte der Selbsthilfe wachsen ließ. Allmählich entwickelte sich eine Familie der Pfarrer und Wissenschaftler, der Beamten und Politiker. Es ging ohne Vererbung von Titeln, Höfen und Vermögen vor sich. Jede Generation hatte sich ihren Platz selbst zu erwerben. Entscheidend blieb die individuelle Qualifikation, gemäß den Regeln der werdenden Bürgergesellschaft, die die Leistungselite der Geburtselite gegenüberstellte.
Gewiß war das Herzstück dieser Bürgergesellschaft in der Wirtschaft zu finden, im kleinen und mittleren Unternehmertum, im Handwerk, im Handel und in der Produktion. Selbständigkeit, Individualität und Autonomie anzustreben und zu bewahren, sich niemandem zu verdingen, das war ihr berufliches Lebensprinzip. Nicht Objekt, sondern Subjekt sein zu wollen, frei zu sein und zu bleiben bedeutete aber notwendigerweise, sich aus den Angelegenheiten des Gemeinwesens nicht herauszuhalten,
sondern eine bürgerliche Öffentlichkeit zu schaffen und mitverantwortlich auszufüllen. Es galt, den Horizont zu erweitern, sich eine allgemeine Bildung zu erwerben, die einem dann auch im eigenen Unternehmen sehr nützlich werden konnte. Über diese Entwicklung hat Lothar Gall am Beispiel der Mannheimer Familie Bassermann eine lehrreiche Geschichte vom Bürgertum in Deutschland geschrieben.
»Wo käm die schönste Bildung her, und wenn sie nicht vom Bürger wär«, schrieb Goethe. Gemäß der Idee des Neuhumanismus galt es, sich durch allgemeine Bildung zu fördern, an öffentlichen Aufgaben teilzuhaben und die Kultur zu pflegen. Mehr noch als die Kunst fand die Wissenschaft starke Impulse im Bürgertum.
So gingen handwerkliches, unternehmerisches und Bildungs-Bürgertum ineinander über, und so entwickelten sich auch die Weizsäckers. Der begabte Sohn des letzten zum Müllerhandwerk gehörenden Vorfahren, mein Ururgroßvater, wurde der erste Studierte der Familie. Er hatte von seinem hohenloheschen Landesfürsten ein Stipendium erhalten, wurde Theologe und Stiftsprediger in Öhringen.
Sein jüngerer Sohn Julius, von Haus aus zunächst Theologe, nahm 1848 an der Tübinger Stiftsrevolte teil. Das Tübinger Stift war in der Reformationszeit als »Hochfürstliches Stipendium« für den theologischen Nachwuchs gegründet worden und spielte in der ganzen Geistesgeschichte des Südwestens von Deutschland eine prägende Rolle. Hegel, Hölderlin und Schelling sind aus ihm hervorgegangen. Julius Weizsäcker bekannte sich zur Einheit und Republik für ganz Deutschland, wurde unter Rankes Einfluß Historiker und verbrachte seine akademische Laufbahn an sechs Universitäten. Seinen Lehrstuhl in Tübingen errang er im Wettbewerb gegen Jacob Burckhardt. Zuletzt war er Professor an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin - ein stets politisch denkender, unabhängiger Gelehrter, wie es damals bei uns gar nicht so selten war.
Der ältere Sohn des Öhringer Stiftspredigers, Carl Weizsäcker, mein Urgroßvater, wurde und blieb Theologe in Württemberg. Sein Thema wurde die Kirchengeschichte, sein Hauptwerk trug den Titel: Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche. Mit seiner ganz undogmatischen Frömmigkeit konzentrierte er sich um des Glaubens willen auf die Erforschung historischer Tatsachen. Weithin bekannt wurde er durch seine zwölfmal wiederaufgelegte Übersetzung des Neuen
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