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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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sich gelegentlich auch einmal an revolutionären Kundgebungen. Sie wählte etwas links von den Konservativen. Auf die Frage an die Frauen, was sie mit ihrem neuen Wahlrecht denn nun konkret machen würden, ging damals freilich in der älteren Generation der Familie noch der Spruch um: »Wir wissen noch nicht, was der Großpapa wählt.«
    Mein 1882 geborener Vater war im Jahr 1900 als Kadett zur Marine gegangen, in der er bis kurz nach dem Kriegsende blieb. Einerseits war sie ein Symbol der Reichseinheit, zu der er sich vorbehaltlos bekannte, ohne deshalb im geringsten an seinem Schwabentum irre zu werden. Andererseits war die problematische Tirpitzsche Flottenpolitik, von des Kaisers Begeisterung unterstützt und angetrieben, zum provokanten Ausdruck des Anspruchs auf einen größeren »Platz an der Sonne« geworden. Die menschliche Atmosphäre unter seinen Altersgenossen empfand
mein Vater wohltuend. Zeitlebens besann er sich dankbar auf die Kameradschaft in seiner über zweihundert Kadetten zählenden Crew. Sie fühlten sich - entgegen der aufreizenden Wirkung der Flottenaufrüstung - besonders eng mit den britischen Seeleuten verbunden und unternahmen auf Schiffen aller Art weite Reisen bis nach Ostasien, von denen feine Aquarelle meines Vaters zeugen; in dieser Maltechnik war er zeitlebens ein Meister. Als junger Leutnant beobachtete er an der Tafel der legendären alten Kaiserin von China, wie die Diener, ehe der letzte Gast verschwunden war, die Weinreste aus den Gläsern in die Flaschen zurückgossen - auch das war offenbar ein Teil der dortigen Zucht und Ordnung.
    Mit dem Einfluß Kaiser Wilhelms auf die Flotte kam er bald in nähere Berührung. In seiner Ausbildungszeit war er zum Crew-Ältesten geworden; als junger Leutnant wurde er selbst Ausbilder des Prinzen Adalbert, des einzigen der Kaisersöhne, der zur Marine ging. Später hatte er als sogenannter Flaggleutnant des Flottenchefs oft Gelegenheit, den Kaiser zu beobachten. Sein Urteil blieb deutlich genug, wenn auch diskret. Er empfand das theatralische Auftreten der Majestät als Ausdruck jenes übertriebenen Stolzes, der auf eine Mischung von Selbstüberschätzung und Unsicherheit deutete. Er erlebte die allzu leichte Beeinflußbarkeit des Kaisers, sobald es innerhalb der Marineführung zu Meinungsverschiedenheiten kam.
    Über den Ausbruch des Krieges pflegte er Lloyd George zu zitieren: »Wir alle sind in den Krieg hineingestolpert.« An Bord des Flaggschiffs »Friedrich der Große« nahm er an der Skagerrak-Schlacht teil, dem einzigen großen Kräftemessen zwischen Großbritannien und Deutschland zur See. Nur nach Verlusten gemessen verlief sie günstig für die deutsche Seite, brach aber die britische Seeblockade nicht und blieb ohne Einfluß auf den Gang des Krieges. In der Debatte um den uneingeschränkten U-Boot-Krieg teilte mein Vater die schweren Sorgen seines Vaters gegenüber diesem unsinnigen Projekt, das den weiteren
Kriegsverlauf entscheidend gefährdete. Gegen Ende des Krieges kam er als Verbindungsoffizier zum Marinestab bei Hindenburg und Ludendorff ins Große Hauptquartier. Er empfand Hindenburg als einen ruhigen, unkomplizierten Mann, der sich stets gleichblieb, Verantwortung nie auf andere schob und selbst keine politischen Interessen zeigte. Ganz anders Ludendorff, der sich im rastlosen Planen und Entscheiden verzehrte und die Führungskompetenz der Obersten Heeresleitung in allen wesentlichen Fragen der Innen- und Außenpolitik wahrnahm, oft ohne die Tragweite der Maßnahmen durchschauen und kontrollieren zu können. Mein Vater beteiligte sich aktiv, aber einflußlos an Diskussionen um Friedensbemühungen. Den 9. November 1918 erlebte er in Spa.
    Von der Dolchstoßlegende hat er nie etwas gehalten. Während meine Mutter seit langem die tiefen sozialen Wurzeln der Revolution gespürt hatte, war es bei ihm die Außenpolitik des Reiches, die ihn mit Sorge erfüllt hatte: der parvenühafte Versuch des jungen Reichs, eine Weltrolle gegen England und ohne kontinentale Sicherung zu usurpieren, der fatale Mangel an klügerer Bescheidung im internationalen Auftreten. Das Grundmotiv seiner Denkweise und seines weiteren Wirkens hatte hier seine Ursprünge. Zu den Waffenstillstands- und Friedensbedingungen der Entente notierte er als seine sofortige erste Reaktion: »Daraus entsteht der nächste Krieg; die Kinder werden ihn ausfechten müssen.« Er sah damit seinen weiteren Lebensweg also voraus.

Frühe Jahre in Basel und Kopenhagen
    Doch

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