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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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ist heute leicht, etwa fünf Stunden auf einem Fahrradweg ohne Steigung,
immer an dem Tauber entlang. An einigen Stellen sind die Wiesen noch immer
überflutet, der zurückgegangene Fluß hat große Teiche hinterlassen, die hier
und da auch den Fahrradweg bedecken. An diesen Stellen werde ich zu Umwegen
gezwungen. Dies verdirbt aber keineswegs meine gute Laune. Im Gegenteil, ich
freue mich über mein Glück, daß ich jetzt und nicht vor fünf Tagen hier gewesen
bin. Da war der etwa zehn Meter breite Tauber dreihundert Meter breit und vier
bis fünf Meter tief. Ich hätte tagelang auf der Landstraße laufen müssen.
    Das Städtchen Lauda hat einen häßlichen
wuchernden Außenbezirk und eine schöne alte Innenstadt. Vor der Stadtkirche
treffe ich einen alten Pfarrer. Ich spreche ihn an, sage, daß ich ein
Jakobspilger bin, und bitte um eine Bestätigung in meinem Pilgerpaß darüber,
daß ich hier gewesen bin. Der alte Herr bittet mich, ihn in seine Wohnung zu
begleiten. Dort begrüßt mich eine liebe alte Dame, seine Haushälterin. Sie sind
beide schon über achtzig Jahre alt, und wie sie sagen, dankbar für jeden Tag,
den Gott ihnen schenkt, beisammen sein zu dürfen. In der mit alten Möbeln
eingerichteten Wohnung steht die Zeit schon seit langem still. Die zehn Meter,
die ich zwischen Eingangstür und Wohnzimmer durchschreite, genügen, um das
Heute in Gestern, und die Hektik der Straße in beschaulichen Frieden zu
verwandeln. Ich bekomme meinen Stempel, und dabei erzählt der Pfarrer, daß zu
seinen Familiendokumenten auch der Wanderpaß seines Vaters gehört, der als
Wandergeselle am Anfang des Jahrhunderts drei Jahre unterwegs gewesen ist. Man
kann heute anhand der Stempel rekonstruieren, wo er sich damals überall
aufhielt. Er findet es sehr lobenswert, daß auch ich mich auf einen so langen
Weg aufgemacht habe. Ich bin stolz darüber, daß er mich indirekt mit seinem
Vater vergleicht. Beim Abschied von den beiden lieben alten Menschen denke ich,
wenn das Alter so ist, dann möchte auch ich alt werden.
    Am diesen Nachmittag sind viele
Radfahrer und Spaziergänger unterwegs. Mir ist es ungewohnt, nach so viel
Einsamkeit wieder unter Menschen zu sein. In dem nächsten Dorf sprechen mich
zwei alte Herren an und fragen nach Woher und Wohin? Als sie hören, daß ich zu
Fuß aus Kassel komme, erzählen sie, daß am Ende des Krieges auch sie eine lange
Strecke gelaufen sind. Um der Kriegsgefangenschaft zu entgehen, ist der eine
aus Leipzig, der andere aus Eschwege hierher nach Hause gelaufen. Dabei trauten
sie sich oft nur nachts auf den Weg, weil sie befürchten mußten, von den
Alliierten geschnappt und eingesperrt zu werden. Zum Essen gab es nichts, so
waren sie Haut und Knochen, aber sehr glücklich, als sie hier ankamen. Wir sind
uns darüber einig, daß ich es heute wesentlich einfacher habe als sie damals.
    Nur einige hundert Meter weiter in
Edelfingen fragen mich zwei junge Frauen, die mit Fahrrad unterwegs sind und
hier eine Pause machen, wohin ich laufe. Mein Vorhaben finden sie sehr
beeindruckend. Wir verabschieden uns, und ich laufe mit geschwellter Brust und
erhobenen Hauptes in Richtung Bad Mergentheim weiter. Später überholen sie
mich, und eine der Frauen ruft:
    „Sie haben aber einen flotten Schritt!“
    „Das mache ich nur für Sie!“ antworte
ich.
    Bad Mergentheim gefällt mir an diesem
sonnigen, warmen Nachmittag außerordentlich gut. Die Straßen sind voller
frühlingshaft bunt gekleideter Spaziergänger. Vor den Eisdielen stehen lange
Menschenschlangen. Offensichtlich bin ich nicht der einzige, der sehnsüchtig
auf dieses Wetter gewartet hat.
    Abends ruft mich eine Freundin an und
teilt mir ganz aufgeregt die ersten Ergebnisse der Kommunalwahlen in Kassel
mit. Ich habe gänzlich vergessen, daß heute Wahltag ist. Das halte ich für ein
gutes Zeichen.

Montag, am 3. März
Von Bad Mergentheim nach Creglingen
    Wie kann es bloß nacheinem so schönen sonnigen Tag wie gestern heute früh schon
wieder regnen? Der Himmel ist grau, ein amorphes Einerlei, und dazu dieses
Plätschern, das mir die letzte Lust zu laufen und leben nimmt.
    Ich versuche erst mal Zeit zu gewinnen,
gehe in ein Café und hoffe, daß der Regen nachläßt. Dies ist anscheinend die
richtige Maßnahme gewesen. Es regnet zwar nach wie vor, aber nach einem guten
zweiten Frühstück bessert sich meine Laune.
    Die ersten zwei Stunden laufe ich wie
schon gestern auf dem Fahrradweg, nur gestern strahlte die Sonne, jetzt aber
regnet es.

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