Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
das
mittelalterliche Kobolzeller Tor. Der Weg senkt sich steil ins Tal hinunter zu
der sehenswerten alten Steinbrücke, der Doppelbrücke. Der Name ist leicht zu
erklären: Über vier großen Bögen wölben sich, eine Etage höher, sechs kleinere
Bögen. Das Bauwerk zeugt von der Kunst der Handwerker des 14. Jahrhunderts.
Hinter der Brücke führt der Weg aus dem
Ta! wieder hinaus, und damit befinde ich mich schlagartig in einer anderen
Landschaft. Es ist eine sehr weitläufige eintönige Hochebene. Fast keine Bäume
sind zu sehen, nur aus der Ferne zeigen sich manchmal kleine Restwälder. Die
Schwermut des Bildes wird durch das diesige Grau des Himmels noch
unterstrichen. Um den langen Weg, den ich mir für heute vorgenommen habe, abzukürzen,
laufe ich auf der Landstraße, wo so gut wie kein Verkehr anzutreffen ist. Eine
ziemlich trostlose Wanderung. Erst nach über zwei Stunden, hinter Hausen, wird
die Gegend ein bißchen abwechslungsreicher.
Von Rot am See führt eine lange gerade
Birkenallee nach Niederwinden. Es ist eine der Straßen, die so schön sind, daß
man, wenn man sie einmal entlang gelaufen ist, sie nie wieder vergißt. Die
Sonne kommt heraus, und mir fällt das Lied über Müllers Lust beim Wandern ein.
Genau so habe ich mir diese Wanderung von Anfang an vorgestellt! Auch die
Fortsetzung des Weges an einem Bach entlang nach Gaggstatt versetzt mich in
eine fröhliche, ausgelassene Stimmung. Manchmal finde ich, daß laufen zu
können, diese langsame, kaum wahrnehmbare Veränderung der Landschaft erleben zu
dürfen, eine der größten Gnaden Gottes ist, die dem Mensch gegeben ist.
Im Gaggstatt steht etwas abseits vom
Weg eine Kirche, die meine Neugier weckt. Eigentlich sieht sie sehr gut
proportioniert wie eine doppeltürmige romanische Kirche aus, aber wie eine, die
übereifrig restauriert geworden ist. Ich mache den kurzen Umweg und will das
Bauwerk näher anschauen.
Neben der Kirche liegt ein großer
Haufen Holz auf der Straße, und ein alter Herr ist dabei, die Scheite klein zu
machen. Zwei rote Katzen gucken ihm interessiert zu. Ich begrüße ihn, lobe
seine schönen Katzen und auch das Wetter, das mir erlaubt zu wandern und ihm,
das Holz zu hacken. Er fragt nach woher und wohin, und ich brauche ihm nichts
über den Jakobsweg zu erklären, er ist darüber überraschend gut informiert. Er
stellt eine Menge vernünftiger Fragen über meine Route, Reisedauer, meine
Ausrüstung. Dann sagt er, daß er es sehr gut finde, daß ich diese Pilgerreise
mache, auch wenn er nicht katholisch und ihm die Pilgerei grundsätzlich suspekt
sei. Bewundernswert! Der Mann ist bald achtzig, und dann diese Toleranz!
„Wie alt schätzen Sie die Kirche?“
fragt er mich.
„Ja, das ist gerade das Problem“,
anworte ich, „sie kann sehr alt und nicht besonders gut restauriert, aber auch
recht jung sein“.
„So ist es, sie wurde 1905 erbaut. Sie
ist eine berühmte Jugendstilkirche. Haben Sie noch nie etwas von dieser Kirche
gehört?“ Ich muß diese Schande eingestehen. „Wollen Sie die Kirche sehen?“
fragt er, „dann hole ich den Schlüssel.“
Wir gehen durch den Kirchhof zum
Seiteneingang. Die Katzen kommen mit und wollen mit in die Kirche, was der alte
Herr ihnen nicht erlaubt.
Der Innenraum ist verblüffend. Sicher
ist es Jugendstil, und man kann die entsprechende Stilelemente suchen und auch
finden. Für mich ist es ein wunderbarer, individueller sakraler, aber sehr
fröhlicher Raum. Die runden Bögen und die Kassettendecke erinnern mich an eine
frühromanische Basilika, aber deren Strenge wird hier spielerisch aufgelöst
durch Farbe, gemalte Motive, kleine Unregelmäßigkeiten, Widersprüche und
Ergänzungen.
„Soll ich es Ihnen erklären?“ fragt der
alte Herr, und als ich begeistert nicke, wird er, wie von einem Zauberstab
berührt, augenblicklich ein Fremdenführer, der mit einstudiertem, wie gesungen
vorgetragenem Text mir die Baugeschichte, das Gesamtkonzept, die Bedeutung der
einzelnen Motive und Elemente genau erklärt. Ich bin begeistert und dankbar.
Wir verabschieden uns mit einem langem
Händedruck und mit gegenseitigen guten Wünschen.
Die restlichen zwei Kilometer bis zur
Jugendherberge in Kirchberg an der Jagst sind danach ein kurzer und freudiger
Spaziergang. Auch hier bin ich der einzige Gast.
Etwa um 20 Uhr, also schon im Dunkeln
veranstaltet die Bundesluftwaffe vor meinem Fenster einige Tiefflugübungen.
Fünfmal donnern die Maschinen an uns vorbei. Das muß Spaß
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