Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Auch die vielen Menschen, die gestern die Stadt und die Radwege
bevölkerten, sind wie verschwunden. Ich bin wieder allein auf meinem Weg. Das
Tal wird nach Norden von dem Tauberberg begrenzt, dessen Südhang zu den guten
Weinlagen gehört. Auch der Wein, ein Merkelsheimer, den ich gestern abend
getrunken habe, ist hier gewachsen. Die Gelände ist steil und sehr steinig, der
Boden besteht aus grünlichem Schiefertrümmer. Solche Weinfelder sind schwer zu
bearbeiten, dementsprechend muß der Wein sehr gut sein, damit die Arbeit sich
überhaupt lohnt. Aus diesem Grund sind viele der weniger guten Weinlagen im
Taubertal in diesem Jahrhundert aufgegeben bzw. nach der Mehltaukatastrophe
nicht wieder rekultiviert worden. Die Rebenfläche von heute ist hier nur etwa
halb so groß wie die vor hundertfünfzig Jahren.
Hinter dem bewaldeten Karlsberg öffnet
sich die Landschaft zu einer weiten anmutigen Hochebene mit kleinen,
abgelegenen Dörfern, großen Ackerflächen und Wäldern. Bald erreiche ich eine
hier etwas unvermutete Badeanstalt. Unmittelbar daneben befindet sich ein
großer Schweinemastbetrieb. So wie die ganze Umgebung hier nach Schweinedung
duftet, muß im Bad nicht nur das Wasser, sondern auch die Luft gechlort werden.
Ein idyllischer Wiesenweg begleitet den
Bachlauf von Neubronn nach Niederrimbach. Die Weidenbäume, die an der
Uferböschung des kleinen Baches wachsen, sind von Korbflechtern, die die dünnen
Ruten zur Korbherstellung benötigen, stark zurückgeschnitten worden. Die dicken
knorrigen Stämme mit den dünnen geraden Zweigen erinnern mich an erschrockene
Waldgeister, deren Haare gegen den Himmel stehen.
Das letzte Hindernis vor meinem
Tagesziel ist der steile Berg Bockstall. Ich keuche und schwitze, aber oben
werde ich belohnt mit dem Blick auf einen besonders schönen Mischwald mit
Kiefern, Buchen, Birken, sogar einigen Ulmen, und als wahre Attraktion stehen
hier viele bewundernswert große, turmhohe Lärchen, richtige Riesen, wie man sie
selten sieht. Hier treffe ich auch den Revierförster, dem ich sage, wie sehr
mir der Wald hier gefällt. Ja, meint er, die kommenden Wochen sind die
schönsten, in denen die Natur aufwacht und aufblüht. Man sieht jeden Tag etwas
Neues, worüber der Mensch sich freuen kann. Er findet es gut, daß ich mich
überhaupt auf diesen langen Weg gewagt habe und freut sich für mich über den
kommenden Frühling. Ein Gasthaus in Creglingen finde ich schnell. Die
Wirtsleute sind sehr alt, das Zimmer ist einfach. Das Treppenhaus riecht
süßlich nach einem Kater.
Vor dem Schlafengehen trinke ich in der
Gaststube einen Schlummerschoppen. Die Wirtin fragt, was mich hierher bringt, und
ich erzähle ihr über meinen Pilgerweg.
„Ja, das könnte ich nicht mehr“, sagt
sie. „Ich kann höchstens nur noch zum Friedhof. Und nur abwärts, weil ich es
mit dem Rücken habe. Mein Mann kann besser aufwärts, wegen den Knien, er kann
abwärts nicht. Ich kann abwärts viel besser als er. Aber nach... wohin wollen
Sie? Nach Spanien? Nein, nein, das kann ich nicht!“
Wie auf s Stichwort erscheint der alte
Ehemann, nahe Achtzig, und sagt:
„Rhodos“.
„Das ist aber in Griechenland, nicht in
Spanien!“ sagt die Frau.
„Ja, Rhodos“, beharrt er, „wir waren
auf Rhodos. Auf Urlaub. Auf Rhodos. Ja.“
Seine Frau zieht ihn in die Küche
zurück. Auch ich gehe schlafen.
Dienstag, am 4. März
Von Creglingen nach Rothenburg ob der Tauber
Grau, unbeschreiblich
eintöniggrau, und es regnet. Etwa sechs Stunden in
diesem Wetter auf Aphaltwegen zu laufen... Schon die Vorstellung ist mir
zuwider! Ich wußte es ehrlich nicht, daß Regen mich so sehr deprimieren könnte.
Aber wann bin ich schon so viel im Regen gelaufen? Wann bin ich überhaupt so
viel gelaufen?
Schon nach den ersten paar hundert
Metern bin ich in der kalten und doch feuchten Luft naßgeschwitzt. Auch der
Rucksack drückt mich heute besonders schwer. Es reicht mir!!! Diese ganze
Unternehmung ist genau so ein Genuß wie Ziegelsteine auf den Dachboden zu
schleppen! So bescheuert kann doch kein Mensch sein, daß er sich mit einer
sauschweren Last auf dem Rücken stundenlang abquält, während er mit dem Bus
dieselbe Strecke in zwanzig Minuten gefahren wäre! Kein Pilger wäre im
Mittelalter so blöd gewesen, zu Fuß zu laufen, wenn es damals schon Busse
gegeben hätte!
Ich bleibe voller Wut stehen, lasse den
Rucksack vom Rücken auf den Boden rutschen. Dann fasse ich den Trageriemen mit
beiden Händen an, und nach einer
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