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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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unterhalten sie sich in einer Lautstärke, als ob es um Leben und Tod
gehen würde. Wahrscheinlich geht es aber nur um das Wetter oder den
EG-Milchpreis. Jedenfalls, auf das Schreiben kann ich mich nicht konzentrieren;
ich versuche lieber, einige Skizzen von den Gästen anzufertigen.
    Dann nehme ich mir ein Zimmer und lege
mich kurz hin und schlafe sofort ein. Mein Schlaf ist abgrundtief und von
langer Dauer.
    Erst am späten Nachmittag werde ich
wieder wach. Der Himmel hat sich aufgeklärt. Die durch das Fenster ins Zimmer
scheinende Sonne verbreitet ihre wohlige Wärme. Ich hätte nicht gedacht, daß
ich die Sonnenwärme in Spanien, zumal im Juli, als wohltuend herbeisehnen
würde. Ich kann mich über das Wetter aber wahrhaft nicht beklagen. Gleich, ob
die restlichen Tage Sonne oder Regen bringen, ich kann schon jetzt behaupten,
daß ich heuer in Spanien die beste Witterung angetroffen habe, die ich mir für
das Wandern überhaupt vorstellen kann.
    Werner ist angekommen. Nach der
zweitägigen Reise ist er ziemlich erschöpft, aber das Wiedersehen macht uns
beide munter.
     
     

Freitag, am 18. Juli
Von Palas de Rei nach Melide
    Ich bin abends schnell eingeschlafen, aber irgendwann bin ich wieder aufgewacht und
lange Zeit wach gewesen.
    Gott, warum hast Du mir diese Bürde
auferlegt? Warum läßt Du mich über das nahe Ziel nicht genau so freuen, wie es
alle die anderen Pilger um mich tun dürfen? Viele Pilger und Pilgerinnen werden
in Santiago von ihren Frauen und Männern erwartet, um an der Freude des
Ankommens teilzuhaben. Ich wünschte, auch ich würde dort erwartet! Wir
verschlafen den Morgen und den halben Vormittag. Dies bringt uns den Vorteil,
daß alle anderen Pilger schon längst vor uns losgegangen sind und wir unterwegs
ungewöhnlich wenigen Pilgern begegnen. Dieser Umstand kommt mir heute sehr
entgegen: Ich muß immer wieder stehen bleiben, um meine unaufhörlich fließenden
Tränen zu trocknen.
    Ich habe mich noch nicht richtig daran
gewöhnt, daß ich nicht mehr allein bin. Werner erzählt mir etwas, aber ich habe
Schwierigkeiten, mich auf seine Geschichte zu konzentrieren.
    Vor einem Bauernhaus im Dörflein
Casanova steht eine alte schwarz gekleidete Frau mit einer Schüssel
selbstgemachten Ölgebäcks, das sie zum Kauf anbietet. Wir sollen es erst
probieren. Die fingergroßen gelben frischgebackenen Kreppel schmecken
hervorragend. Das Geschäft scheint trotzdem nicht zu florieren: Sie will es gar
nicht glauben, daß wir eine ganze Tüte voll von den Dingen kaufen wollen. Sie
fragt, ob wir auch Milch dazu trinken wollen. Ja sicher, warum denn nicht? Sie
beeilt sich, uns im Laufschritt die Milch zu bringen. Ich finde es peinlich,
daß das alte Mütterchen sich für uns so abrackert, besonders als ich später
erfahre, daß sie für alles kaum mehr als zwei Mark haben möchte.
    Vor dem Dorf Furelos überquert eine
alte vierbögige Pilgerbrücke den Fluß, der den gleichen Namen trägt. In der
Dorfmitte steht eine einfache kleine Kirche, deren romanischer Ursprung nur von
dem aufmerksamen Beobachter entdeckt werden kann. Der Hauptaltar trägt die
Stilmerkmale des volkstümlichen Barocks. Eine Statue von Santa Lucia erinnert
mich an eine überdimensionale Barbie-Puppe. Besondere Aufmerksamkeit verdient
aber ein schönes spätgotisches Kruzifix mit seiner eigenwilligen Darstellung
des Gekreuzigten: Die rechte Hand Christi ist nicht an dem Kreuz angenagelt,
der rechte Arm hängt, die Schulter schwer in die Tiefe ziehend. Diese
unsymmetrische verzerrte Körperstellung zeigt außergewöhnlich eindringlich, daß
auf dem Kreuz ein leidender bedauernswerter Menschensohn zu Tode gequält wurde.
    Wir erreichen Melide. Für Werner ist es
der erste Wandertag, die sechzehn Kilometern sind genug für heute. Die Stadt
mit den achttausend Einwohnern erweckt einen recht großstädtischen Eindruck,
aber dieser Eindruck wird nur von dem wenige hundert Meter messenden Zentrum
erzeugt. Der Rest ist dörflich und danach ist man wieder auf der Wiese.
    Den Nachmittag verbringe ich in einem
Straßencafe mit Schreiben. Werner macht allein seine Runden, läßt sich rasieren
und die Haare schneiden.
    Abends gehen wir zusammen essen. Ich
trinke mehr als normal, aber nicht mehr als nötig.
     
     

Samstag, am 19. Juli
Von Melide nach Ribadiso
    Die Landschaft, die wir gemächlich durchschreiten, ist eine von Gott besonders
begnadete. Da hier offensichtlich mehr Regen fällt als in anderen Gegenden
Spaniens, sind die mit Wiesen und

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