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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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Zuteilung ist für mich nicht erkennbar. Mir gibt er ein oberes
Bett. Ich bitte ihn, mit Rücksicht auf mein Alter mir ein Bett auf dem Parterre
zu geben.
    „Das geht nicht!“ sagt er. „Das bekommt
der nächste Pilger! Alles der Reihe nach!“
    „Ich bin aber behindert und unfähig,
auf das obere Bett hochzuklettern“, lüge ich und lege meinen Rucksack auf das
verbotene untere Bett.
    Er scheint nachzudenken: Ich höre sein
Hirn summen. Schließlich dreht er sich um und wendet sich zum nächsten Gast,
damit auch der Freude im Leben hat.
    Dieser Mensch ist seit Wochen der erste
Einheimische, mit dem ich keinerlei sprachlichen Schwierigkeiten habe.
Ausgerechnet mit ihm scheint eine Kommunikation fast unmöglich zu sein. Ich
sagte schon immer: Die Sprache ist das größte Verständigungshindernis zwischen
den Menschen!
    Am Nachmittag sitze ich mit Jaap in
einem Café, als er ganz nebenbei erwähnt, daß er eben mit Christine gesprochen
hat.
    „Wo ist sie?“ frage ich. Ich bin ganz
aufgeregt, diese von den anderen Pilgern so oft beschriebene Frau zu treffen.
    „Bei uns in der Herberge. Sie wollte
sich kurz hinlegen.“
    Ich laufe in die Herberge zurück und
rufe in den Schlafsaal:
    „Wer von euch ist die Christine?“
    Eine junge schlanke Frau um Dreißig
meldet sich. Ich stelle mich vor und dann lachen wir beide über diese
Begegnung. Ich erzähle ihr, wie lange ich schon darauf gewartet habe, sie, die
berühmte Christine, zu treffen. Sie sagt, auch ich sei ihr wie ein Phantom
vorgekommen, über das man spricht, das man aber nie zu Gesicht bekommt. Auch
sie hat sich über meine Bemerkungen und Beschreibungen amüsiert, die ich in die
Gästebücher geschrieben habe.
    Anruf von Werner: Morgen früh fährt er
los und hofft, übermorgen in Palas de Rei, wo wir uns treffen wollen, zu sein.
     
     

Montag am 14. Juli
Von Samos nach Sarria
    Eine Wegstrecke, von der ich nichtszu berichten weiß. Für die zwölf Kilometer bis Sarria
benutze ich die Autoroute, an der ich wie ein geistesabwesender Schlafwandler
voranschreite.
    Die Herberge in Sarria ist mit
Schülergruppen überfüllt. Sie wären in einem Ferienlager sicher besser
aufgehoben. Die meisten sind mit Bus angekommen, um die Pilgerreise hier
anzufangen.
    Warum ausgerechnet in Sarria? Die
Erklärung ist einfach. Die Pilger erhalten in Santiago eine Urkunde, die Compostela, die bestätigt, daß sie
die Pilgerreise mit Erfolg absolviert haben. Voraussetzung ist, daß Fußpilger
mindestens hundert, Radfahrer und Reiter mindestens zweihundert Kilometer bis
Santiago zurücklegen. Sarria ist der letzte größere Ort, der mehr als hundert
Kilometer von Santiago entfernt ist. Wenn man von hier nach Santiago pilgert,
bekommt man die begehrte Urkunde mit dem geringsten Aufwand. Kein Wunder, wenn
ich in dieser anonymen Masse förmlich untergehe. In der Herberge gibt es weder
einen Stempel noch ein Gästebuch. „Name? Ausweisnummer? Erster Stock,
Schlafsaal 2! Der nächste!“
    Am Nachmittag begegne ich ein letztes
Mal Christine. Wir trinken einen Kaffee zusammen, bevor sie weiterläuft. Sie
hat es eilig, nach Santiago zu kommen, und zwar genau aus dem oben
beschriebenen Grund. Es tut weh, nach so langen und intensiv erlebten Zeiten
der Individualität als Nummer behandelt zu werden.
     
     

Dienstag, am 15. Juli
Von Sarria nach Portomarín
    Mensch, ich brauche ein bißchen mehr Gelassenheit! Dieser Massenbetrieb macht mir
mächtig zu schaffen!
    Ich verlasse die Stadt im Morgengrauen.
Schon in dieser frühen Stunde laufe ich mitten in einer Völkerwanderung. Als
ich dann in eine lange lärmende Schülergruppe gerate, halte ich inne und
überlege, ob ich überhaupt weiterlaufen soll.
    Es gibt Flüsse, große mächtige Flüsse,
die ihre vermeintliche Mündung nie erreichen. Sie versickern vorher irgendwo in
der Wüste. Ich befurchte, daß hier etwas Ähnliches passiert: Der Fluß der
Spiritualität meines Weges versickert in der Wüste des Massenandrangs und wird
Santiago de Compostela nie erreichen können. Dieser Gedanke bedrückt meine
sowieso nicht besonders gute Stimmung zusätzlich. Mir fällt der berühmte
französische Weltumsegler Bernard Moitessier ein. Er hat 1968/69 an dem ersten
Rennen für Einhandsegler um die Erde teilgenommen. Nach sechs unbeschreiblich
einsamen und in tosenden Stürmen verbrachten Monaten, die ihn rund um das Kap
der Guten Hoffnung, Neuseeland und Kap Hoorn führten, lag er, schon wieder im
Atlantik, uneinholbar in führender Position.

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