Violas bewegtes Leben
EINS
Mit mir würde keiner tauschen wollen.
Garantiert nicht.
Man hat mich ausgesetzt. Einsam und allein. Man will mich in einem Internat in der staubigen Einöde von Indiana vergammeln lassen wie die Kartoffel, die wir nach monatelanger Suche in unserem Küchenschrank in Brooklyn fanden. Erst als die ganze Küche stank wie ein Erdkeller aus den Zeiten der Pilgerväter, dämmerte uns, wieso. Und als wir die Kartoffel endlich fanden, war sie ganz weich und vermodert und voller kleiner weißer Triebe mit ekligen grünen Spitzen.
Ich bin also verschollen. Wie die Kartoffel.
Ich hoffe nur, dass es kein ganzes Jahr dauert, bis meine Freunde mich so vermissen, wie ich jetzt schon weiß, dass ich sie vermissen werde. Und sollte ich es mit Worten nicht so gut beschreiben können – tja, dann gibt es immer noch meine Filmkamera. Mit Film fällt mir so was viel leichter. Bilder statt Worte. Bilder, die sich bewegen.
Ich betätige die Entriegelungstaste, schaue durch den Sucher und drücke auf Aufnahme.
»Ich stehe hier in South Bend, Indiana. Es ist der dritte September 2009.«
Ich drehe mich um, die Hand an der Kamera, das Auge hinter der Linse.
Durch die Linse nehme ich nacheinander die drei alten Ziegelgebäude wahr: Der Curley-Kerner-Bau ist das Wohnheim, in dem ich leben werde, der Phyllis-Hobson-Jones-Bau (laut meiner Mentorin auch Hojo genannt) ist ein Theater mit Kunstateliers im Untergeschoss, und der Geier-Kirshenbaum-Bau ist das Unterrichtsgebäude. Die Chandler-Turnhalle, ein modernes Bauwerk, das mit seiner harten Schale aus weißem Plastik aussieht wie eine Kirmes-Hüpfburg, thront hinter hohen Bäumen versteckt auf einem flachen Feld.
Was hatte ich erwartet? Purpurrote Bergketten? Schließlich befinde ich mich hier im Vorland zu den Prärieebenen des Mittleren Westens. Das Tor zum Wilden Westen. Das hier ist Indiana – bei vielen Völkern der amerikanischen Ureinwohner das Wort für flach . Ja, okay, das war erfunden.
Ich filme das frisch gestrichene schwarze Schild mit den goldenen Buchstaben an der Steinmauer.
DIE PREFECT ACADEMY FÜR JUNGE FRAUEN SEIT 1890
Es tröstet mich ein wenig, dass Eltern schon seit dem Zeitalter der Reifröcke, Schnürstiefel und der Erfindung der Baumwollentkörnungsmaschine ihre Töchter für eine vernünftige Ausbildung hier ablieferten.
»Das ist meine neue Schule«, sage ich laut. »Oder mein Privatgefängnis … wie man’s nimmt.«
Die imposanten Backsteingebäude sind durch verglaste Gänge miteinander verbunden, die von hier aus wie Terrarienaussehen. Ehrlich. Dieses Internat hat Glaskorridore, die genauso aussehen wie die Kulissen, die ich im Sommerlager aus alten Marmeladengläsern bastelte, indem ich sie mit Sand, Cocktailschirmchen und Plastikkäfern füllte.
Ich drehe mich langsam und filme die Felder um die Schule herum. Das Land hat die Farbe von gebackenem Pizzateig ohne Tomatensoße. Üppig grüne Hügel, wie auf der Website der Schule abgebildet, sind nirgendwo zu sehen. Auf der Homepage sieht man einen murmelnden Bach mit kristallklarem Wasser, aber als ich ihn filmen wollte, war da nur ein ausgetrocknetes Bachbett mit groben Steinen und einem dichten Rankengestrüpp.
Ich bin also nicht nur ausgesetzt, sondern auch reingelegt worden – betrogen von meinen eigenen Eltern, die bis jetzt eigentlich immer einigermaßen vernünftige Entscheidungen für mich getroffen haben.
Ich hebe die Kamera und mache einen langsamen Schwenk. Der endlose blaue Himmel hat weiße Wolkenklumpen am Horizont. Er sieht aus wie der Flickenteppich, den meine Mutter vor der Waschmaschine im Keller unseres Backsteinhauses in Brooklyn ausgelegt hat. Alles, was ich sehe, verschlimmert meine Sehnsucht nach Zuhause. Ich frage mich, wie der Himmel über New York wohl gerade aussieht. So ein Blau sieht man dort nie. Das hier ist ein billiges Lidschattenblau, während der Himmel über New York in einem echten Indigoblau strahlt. Wenn der Mond über Indiana aufgeht, ist er bestimmt kitschig silbern, zu Hause aber leuchtet er wunderschön golden, mindestens 24 Karat, so groß, dass er Glitzerstreifen über Cobble Hill wirft, das Viertel, in dem ich wohne. In Indiana wird es ganz sicher keine Glitzerstreifen geben.
Das Erste, was meine Eltern mir beibrachten, als ich eine Kamera in der Hand hatte, war, möglichst wenig Filmzeit auf schöne Landschaftsaufnahmen zu verschwenden und möglichst viel auf Menschen. »Wenn du Menschen filmst«, sagt meine Mutter immer, »dann wirst
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