Violas bewegtes Leben
so auftragen. Ich bin ja ganz rot im Gesicht.«
»Du hast geweint«, sagt Trish nachdenklich.
»Genau.« Na toll, damit hat sie aller Welt verkündet, dass ich am Rande eines Nervenzusammenbruchs stehe, weil ich geweint habe, als meine Eltern gefahren sind. Warum verkrieche ich mich nicht einfach unter Marisols Babyquilt und heule noch ein bisschen?
»Ich werde versuchen, nicht zu weinen, wenn meine Eltern gehen«, sagt Marisol, um mich zu trösten.
»Und wenn, ist es auch nicht so schlimm«, sage ich zu ihr, und das meine ich auch so. Marisol schaut mich erleichtert an, dankbar für meine aufmunternden Worte.
Trish geht in ihr Zimmer und holt die Kamera, während Mr. und Mrs. Carreras sich von mir verabschieden. Marisol nimmt ihre Eltern bei der Hand und führt sie in den Gang hinaus. Ich hoffe, sie bleibt tapfer, denn ich fühle mich wie ein Idiot, weil ich es nicht war.
ZWEI
Etwa sieben Versuche später hat Trish es endlich geschafft, ein einigermaßen ansehnliches Bild von mir
für die Tür zu knipsen. Bei Marisol brauchte es nur drei Versuche, aber sie ist so fotogen, dass selbst eine völlige Niete mit der Kamera wie Trish es nicht vermasseln kann.
Trish hat unsere neuen Bilder auf die Wolken geklebt. Zwei Köpfe hängen schon, fehlen also noch zwei in unserem Vierer Nr. 11. Obwohl Trish mir auf die Nerven geht, bewundere ich ihre Fähigkeit, alles blitzschnell zu erledigen. Kaum hat man seine Taschen abgestellt, hat sie auch schon die Zimmertür geschmückt. Vielleicht färbt dieser Arbeitseifer ein bisschen auf mich ab. Ich bin nämlich Spezialistin darin, alles bis zur letzten Sekunde hinauszuzögern. Keine Ahnung, warum, aber ich schiebe immer alles endlos auf die lange Bank. Hoffentlich ändert sich das. Immerhin gibt es hier keine so großartige Stadt wie New York, die mich ablenkt. Keine Spaziergänge auf der Brooklyn Heights Promenade oder der Brooklyn Bridge, keine Ausflüge nach Greenwich Village und keine Freunde = kein Spaß. Machen wir uns nichts vor: South Bend, Indiana,zeichnet sich nicht gerade durch ein Übermaß an Vergnügungsmöglichkeiten aus. Meine Mutter, wie immer hoffnungslos begeistert und nervtötend optimistisch, erzählte mir, sie hätte sich gerne das South-Bend-Symphonieorchester angehört (bitte!) und sei regelmäßig Schlittschuh laufen gewesen auf dem Saint Joe River (wie nostalgisch), als sie hier zur Schule ging. Sie meinte, ich könne das ja mal testen. Ja, ja. Klar. Am besten bleibe ich einfach in meinem Zimmer und lerne so viel, dass ich wie eine Rakete an die Spitze unserer Klasse schieße (wer’s glaubt …).
Marisol hat ihren Laptop auf ihrem Schreibtisch aufgebaut, neben einer brandneuen Schreibtischlampe, und schreibt nun in ihrem Blog. Offenbar findet sie mich nett. Das ist gut, denn es beruht auf Gegenseitigkeit.
Die Tür zu unserem Zimmer wird aufgestoßen. Herein kommt ein Schwall an Geplapper, so laut, als würden wir mitten im Berufsverkehr an der U-Bahn-Haltestelle der Zweiundvierzigsten Straße stehen. Marisol und ich schauen von unseren Computern auf.
»Ich bin Romy«, verkündet das neue Mädchen. Romy Dixon, ein quirliges Mädchen aus einem Kaff nördlich von New York hat rotes Haar, zu einem kurzen Bob geschnitten und mit zwei himmelblauen Strähnen, die sie beim Sprechen hinter die Ohren streicht. Das Hellblau passt perfekt zu ihren Augen. Das ist aber auch das einzig Coole an ihr; vom Hals abwärts ist sie nämlich total brav gekleidet: eine Thermojeans mit geradem Bein, bei der am Saum das rote Flanellfutter rausguckt, ein gelber Shetlandpullover mit ihren Initialen am Kragen und Collegeschuhe (!) ohne Socken. Sie sieht aus, als käme sie frisch aus dem Kaufhaus, wo sie das gesamte Guthaben ihrerGeschenkkarte für karierte Wollstoffe und Blusen mit flachen Krägen, die man bügeln muss, ausgegeben hat. Es ist gerade mal September, und obwohl es draußen noch warm ist, trägt Romy schon die neue Herbstmode, als wäre das gesetzlich vorgeschrieben.
Unsere neueste Mitbewohnerin, die Nummer drei im Zimmer, stellt uns ihre Familie vor. Das dauert etwa eine Stunde, weil Romy so ungefähr ein Dutzend Eltern hat. Kein Witz! Ihre Mutter und ihr Vater sind geschieden und haben wieder geheiratet, ihr Vater sogar noch zweimal, deshalb hat sie drei Mütter. Nur die derzeitig aktuellen Eltern sind anwesend, und seltsamerweise sehen sie alle gleich aus. Sie tragen so typische Outdoor-Klamotten und haben die rosigen Gesichter von Leuten, die bei kaltem
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