Virus
Jedes Geräusch draußen auf dem Gang ängstigte sie, weil sie fürchtete, es würde jemand einzudringen versuchen. Und bei all den Leuten, die spät heimkehrten oder beim Zimmerservice noch etwas bestellten, gab es reichlich Geräusche.
Außerdem bildete sie sich immer noch ein, irgendwelche Symptome zu verspüren. Sie konnte die Erinnerung an die Injektionspistole in ihrer Hand nicht verdrängen, und jedesmal, wenn sie wach wurde, war sie sicher, Fieber zu haben oder sonstwie krank zu sein.
Am nächsten Morgen war sie völlig ausgelaugt. Sie bestellte Kaffee und frisches Obst, das zusammen mit einer Ausgabe der New York Times gebracht wurde. Auf der Titelseite prangte ein Artikel über die Ebola-Ausbrüche. In New York verzeichnete man inzwischen elf Krankheitsfälle, wovon einer bereits tödlich verlaufen war, aus Philadelphia meldete man sechsunddreißig Erkrankungen und siebzehn Todesfälle. Der bisher einzige Tote in New York war der Auslösefall, Dr. Girish Mehta.
Ab zehn Uhr rief Marissa immer wieder das Plaza-Hotel an, um nach einem für Carol Bradford eingetroffenen Päckchen zu fragen. Sie hatte vor, ihre Anrufe bis zwölf fortzusetzen – die Nachtflugdienste garantierten gewöhnlich Lieferung bis zu diesem Zeitpunkt. Wenn die Sendung ankam, würde ihr Mißtrauen gegenüber Tad etwas schwinden; anschließend würde sie in die Rosenberg-Klinik gehen. Kurz nach elf sagte man ihr, daß das Päckchen angekommen sei; sie könne es am Empfang abholen.
Während Marissa sich fertigmachte, um das Hotel zu verlassen, wußte sie noch nicht so recht, ob sie jetzt überrascht sein sollte, daß Tad ihr das Serum tatsächlich geschickt hatte, oder nicht. Natürlich konnte das Päckchen auch leer sein, oder seine Ankunft konnte als Falle dienen, um ihren Aufenthalt herauszubekommen. Leider sah Marissa keinen Weg, um sich Sicherheit zu verschaffen, und außerdem brauchte sie das Serum zu sehr, als daß ihre Zweifel mehr als theoretische Bedeutung gehabt hätten. Sie mußte es einfach riskieren.
Marissa nahm nur ihre Handtasche mit und dachte fieberhaft über eine Möglichkeit nach, mit möglichst geringem Risiko an das Päckchen zu kommen. Aber mehr, als ein Taxi warten zu lassen und darauf zu hoffen, daß genug Leute rund herum wären, fiel ihr leider nicht ein.
*
George Valhala hatte sich schon seit dem frühen Morgen im Foyer des Essex House aufgehalten. Das war genau die Situation, die ihm gefiel. Er hatte Kaffee getrunken, die Zeitung gelesen und einige hübsche Mädchen ausgiebig beäugt. Alles in allem hatte er es höchst gemütlich gefunden, und keiner der Hausdetektive hatte ihn irgendwie belästigt, wie er so in seinem schicken Armani-Anzug und den echten Krokodillederschuhen dasaß.
Er überlegte gerade, ob er es wohl riskieren könne, mal auf die Toilette zu gehen, als er Marissa aus dem Aufzug treten sah. Er schaffte es, noch vor ihr an der Drehtür zusein. Er schlängelte sich durch den lebhaften Verkehr der Neunundfünfzigsten Straße und rannte auf das Taxi zu, hinter dessen Steuer Jake wartete; dort nahm er auf dem Beifahrersitz Platz.
Jake hatte Marissa schon erkannt und den Motor angelassen. »Am Tag sieht sie eigentlich noch niedlicher aus«, sagte er und bereitete sich darauf vor, auf der Straße zu wenden.
»Sicher, daß das die Blumenthal ist?« fragte der Mann, der auf dem Rücksitz gewartet hatte. Sein Name war Alfons Hicktmann, aber nur wenige Leute ärgerten ihn mit seinem vollen Vornamen. Er ließ sich lieber Al nennen. Er war in der DDR aufgewachsen und über die Berliner Mauer in den Westen geflohen. Sein Gesicht war von täuschender Jugendlichkeit; seine Haare waren blond, und er trug eine Frisur wie Julius Caesar. Seine blaßblauen Augen erinnerten an die eisige Kälte des Winterhimmels.
»Sie hat sich unter dem Namen Lisa Kendrick eingetragen«, sagte George. »Aber sie entspricht genau der Beschreibung. Sie ist es, da gibt es gar keinen Zweifel.«
»Entweder ist die wahnsinnig gut, oder sie hat wahnsinniges Glück«, meinte Al. »Wir haben den Auftrag, sie zu isolieren, ohne daß es irgendeine Panne gibt. Heberling hat gesagt, sie könnte die ganze Sache auffliegen lassen.«
Sie beobachteten, daß Marissa in ein Taxi stieg und sich in östlicher Richtung davonfahren ließ.
Trotz des Verkehrs schaffte Jake seine Wende und holte dann so weit auf, daß er nur noch um zwei Wagen hinter Marissas Taxi lag.
*
»Meine werte Dame, Sie müßten mir schon allmählich
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