Virus
offensichtlich schwerwiegenden Krankheit in einem Privatkrankenhaus namens Richter-Klinik. Wir haben für Sie bereits einen Flug bei der Delta gebucht, Abflug ein Uhr zehn. Außerdem ist für Sie ein Zimmer im Tropic Motel bestellt worden. Klingt direkt himmlisch. Also, viel Glück dann!«
Marissa legte auf und ließ ihre Hand noch für einen Augenblick auf dem Hörer ruhen, während sie ihre Aufregung zu dämpfen suchte. Sie fühlte sich in keiner Weise vorbereitet. Diese armen, arglosen Leute da drüben in Kalifornien hatten das CDC zu Hilfe gerufen in der Annahme, daß dann von dort ein Seuchenexperte, ein erfahrener Fachmann käme. Und was bekamen sie nun statt dessen? Ausgerechnet sie, Marissa Blumenthal, ganze ein Meter zweiundfünfzig groß. Sie ging zurück ins Eßzimmer, erklärte entschuldigend, warum sie weg müsse, und verabschiedete sich …
KAPITEL 2
21. Januar
Bis Marissa ihren Koffer von der Gepäckausgabe geholt, auf einen Mietwagen gewartet, ihn dann auch bekommen hatte (der erste war nicht angesprungen) und es schließlich auch noch geschafft hatte, den Weg zum Tropic Motel zu finden, begann es allmählich hell zu werden.
Als sie sich bei der Anmeldung eintrug, mußte sie an Roger denken. Aber sie würde ihn nicht anrufen – sie hatte sich das während des Flugs mehrmals fest vorgenommen.
Das Motel war ziemlich deprimierend, aber es war ihr gleichgültig. Sie würde dort ohnehin nicht allzuviel Zeit verbringen. Sie wusch sich Gesicht und Hände, richtete ihr Haar und steckte die Haarspange wieder hinein. Da es keinen weiteren Grund für eine Verzögerung gab, stieg sie erneut in ihren Mietwagen und machte sich auf den Weg zur Richter-Klinik. Ihre Handflächen fühlten sich feucht an.
Die Klinik lag günstig an einer breiten Durchgangsstraße. Um diese frühe Morgenstunde herrschte noch kaum Verkehr. Marissa fuhr in die Tiefgarage, löste ihren Parkschein und fand einen freien Platz gleich in der Nähe des Eingangs. Die ganze Anlage war modern, einschließlich der Garage und des eigentlichen Krankenhauses, das einige Stockwerke hoch zu sein schien. Sie stieg aus, dehnte und streckte sich und nahm ihre Aktentasche aus dem Wagen.
Darin befanden sich ihre Bewertungen des Einführungskurses im Fach Epidemiologie – als ob das von irgendwelchem Nutzen sein könnte –, ein Notizblock, Bleistifte, ein kleines Buch über diagnostische Virologie, ein Ersatzlippenstift und ein Päckchen Kaugummi. Ein echter Witz!
Im Gebäude nahm Marissa sofort den vertrauten Krankenhausgeruch nach Desinfektionsmitteln wahr – ein Geruch, der sie irgendwie beruhigte und bewirkte, daß sie sich gewissermaßen zu Hause fühlte. Der Empfangsschalter war unbesetzt, und sie fragte einen Mann, der gerade dabei war, den Boden zu bohnern, wie sie in den eigentlichen Krankenhaustrakt komme. Er wies auf einen im Boden eingelassenen roten Streifen, und sie folgte diesem bis in die Notaufnahme. Viel Betrieb herrschte nicht, aber es waren immerhin ein paar Patienten im Wartezimmer und zwei Krankenschwestern am Aufnahmepult. Marissa machte den diensthabenden Arzt aus und stellte sich vor.
»Großartig!« rief der Arzt überschwenglich. »Sind wir froh, daß Sie hier sind! Dr. Navarre hat schon die ganze Nacht über auf sie gewartet. Ich geb’ ihm sofort Bescheid.«
Geistesabwesend spielte Marissa mit ein paar Büroklammern. Als sie aufblickte, bemerkte sie, daß die beiden Krankenschwestern zu ihr herüberstarrten. Sie lächelte sie an, und beide lächelten zurück.
»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?« fragte die größere von beiden.
»Das wäre sehr freundlich«, antwortete Marissa. Zusätzlich zu ihrer allgemeinen Beklemmung spürte sie nun auch die Folgen davon, daß sie zu gerade zwei Stunden unruhigen Schlafs während des Fluges gekommen war.
Während sie die heiße Flüssigkeit schlürfte, rief Marissa sich die spannenden Geschichten um medizinische Detektivarbeit ins Gedächtnis zurück, die Berton Roueche im New Yorker veröffentlicht hatte. Es war ihr Traum, an einem Fall mitzuwirken, wie ihn John Snow, der Vater der modernen Epidemiologie, gelöst hatte: Eine Cholera-Epidemie in London konnte zum Erlöschen gebracht werden, nachdem es Snow gelungen war, als eindeutige Ursache eine ganz bestimmte Wasserpumpe ausfindig zu machen. Besonders eindrucksvoll war die Leistung Snows, weil sich zu dieser Zeit die Erkenntnis über die Verbreitung von Krankheiten durch Keime noch keineswegs durchgesetzt
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