Virus
Temperatur fest. Kein gutes Zeichen. Rasch blätterte sie die weiteren Unterlagen durch. Es war klar, daß sie sich später eingehend damit beschäftigen müsse; aber selbst diese erste flüchtige Durchsicht überzeugte sie vonder Sorgfalt, mit der die Untersuchungen gemacht und notiert worden waren – besser als sie selbst es hätte machen können. Die Laborarbeiten waren wirklich umfassend gewesen. Ein weiteres Mal fragte sie sich, wie um Himmels willen sie eigentlich dazu komme, hier als Autorität aufzutreten.
Marissa wandte sich wieder den Unterlagen zu und befaßte sich mit den Aufzeichnungen zur Krankheitsgeschichte. Als ungewöhnlicher Umstand fiel ihr dabei sofort auf, daß Dr. Richter sechs Wochen vor dem Auftreten der ersten Symptome einen Kongreß von Augenärzten in der kenianischen Hauptstadt Nairobi besucht hatte.
Nachdem ihr Interesse dadurch geweckt war, las sie weiter. Eine Woche vor Beginn seiner Erkrankung hatte Dr. Richter an einer Konferenz über Operationen am Augenlid teilgenommen, die in San Diego stattgefunden hatte. Und zwei Tage vor der Krankenhausaufnahme war er von einem Cercopitheceus aethiops gebissen worden – was zum Himmel war das denn? Sie wandte sich fragend an Dr. Navarre.
»Das ist eine Affenart«, erläuterte ihr dieser. »Dr. Richter hat immer ein paar von ihnen da für seine Untersuchungen auf dem Gebiet des Augenherpes.«
Marissa nickte und widmete sich nochmals den Laborwerten. Der Patient hatte einen verminderten Gehalt an weißen Blutkörperchen, ein auffälliges Hirnstrombild, niedrige Thrombozytenwerte. Weitere Laborergebnisse deuteten auf Fehlfunktionen von Leber und Nieren, und selbst das EKG zeigte gewisse Unregelmäßigkeiten. Dieser Mensch war rundum sehr schwer krank.
Marissa legte die Unterlagen wieder hin.
»Fertig?« fragte Dr. Navarre.
Obwohl Marissa bestätigend nickte, wäre es ihr viel lieber gewesen, wenn man ihre Begegnung mit den Patienten verschoben hätte. Sie hatte keinerlei hochfliegende Hoffnungen, auf wunderbare Weise irgendeine Besonderheit zu entdecken, die man bisher übersehen hatte und die sich als entscheidend für die Lösung des Geheimnisses herausstellen würde. Ihr zu diesem Zeitpunkt die Patienten vorzuführen war reines Theater, aber leider auch ein recht riskantes Geschäft. Widerstrebend folgte sie Dr. Navarre.
Sie betraten also die Intensivstation mit all dem ihr vertrauten Drumherum an aufwendigen und komplizierten Apparaturen. Die Patienten waren reglose Opfer, angeschlossen an ein Gewirr von Drähten und Plastikschläuchen. Der Geruch von Alkohol lag in der Luft, und das Geräusch von Beatmungsgeräten sowie das Piepsen der Überwachungsmonitore waren zu hören. Und es herrschte auch die übliche erhöhte Betriebsamkeit des Pflegepersonals.
»Wir haben Dr. Richter in diesen Nebenraum gelegt«, sagte Dr. Navarre und hielt vor einem geschlossenen Durchgang an. Links davon befand sich ein Fenster, durch welches Marissa den Patienten sehen konnte. Wie bei den anderen auf dieser Station hingen auch über ihm viele Infusionen. Hinter ihm zeichnete ein Monitor ununterbrochen sein Elektrokardiogramm auf.
»Sie sollten wohl besser Kittel und Mundschutz anlegen«, meinte Dr. Navarre. »Wir beachten aus einleuchtenden Gründen bei allen Patienten strenge Isolationsmaßnahmen.«
»Aber selbstverständlich«, antwortete Marissa und hoffte im selben Moment, es habe nicht zu dienstfertig geklungen. Wenn es sie hier weiterbringen konnte, wäre sie auch bereit, in eine Plastikkugel zu schlüpfen. Sie zog sich also den Kittel über und legte dann noch einen Mundschutz, ein Häubchen, Überziehstiefel und sogar Gummihandschuhe an. Dr. Navarre tat genau dasselbe.
Ohne daß es ihr bewußt wurde, atmete Marissa ganz flach, als sie auf den Kranken hinunterschaute – und es war ihr peinlich, daß sich ihr der abfällige Ausdruck aufdrängte, er sehe aus, als sei er »am Abkratzen«. Seine Farbe waraschgrau, die Augen eingesunken, die Haut schlaff. Über seinem rechten Jochbein war ein blauer Fleck, seine Lippen waren ausgedörrt und auf seinen Vorderzähnen sah man Spuren getrockneten Blutes.
Marissa blickte auf den Schwerkranken und wußte nicht, was sie tun sollte; aber in ihrer Befangenheit spürte sie den Zwang, irgend etwas zu tun, zumal Dr. Navarre neben ihr jede ihrer Bewegungen zu beobachten schien. Also fragte sie: »Wie geht es Ihnen?« und war sich doch, kaum waren die Worte heraus, darüber klar, daß das eine ganz dumme Frage
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