Virus
fühlte. »Allein, im Team oder im Krankenhaus?«
Da ertönte Ralphs Stimme über dem Gewirr der Unterhaltung: »Das Essen ist angerichtet!«
Marissa war ausgesprochen erleichtert, als Dr. Jackson und Dr. Sandberg davongingen, um ihre Frauen zu suchen.
Für einen Augenblick hatte sie tatsächlich das Gefühl gehabt, einer Befragung unterzogen zu werden.
Im Eßzimmer stellte Marissa fest, daß Ralph seinen Platz am Kopf der Tafel und den von Marissa gerade gegenüber am unteren Ende gewählt hatte. Direkt rechts von ihr saß Dr. Jackson, der glücklicherweise auf weitere Fragen über klinische Medizin verzichtete. Zu ihrer Linken saß der silberhaarige Dr. Hayward.
Je weiter das Abendessen fortschritt, desto deutlicher wurde es, daß Marissa hier mit der Oberschicht der Ärzteschaft von Atlanta zusammen speiste. Das waren nicht einfach Mediziner; es waren vielmehr die erfolgreichsten Privatärzte der Stadt. Die einzigen Ausnahmen bildeten Cyrill Dubchek, Tad und sie selbst.
Nach einigen Gläsern guten Weins war Marissa gesprächiger als üblich. Sie verspürte eine Art verlegener Gewissensbisse, als sie merkte, daß der ganze Tisch der Schilderung ihrer Kindheit in Virginia lauschte. Sie zwang sich dazu, lächelnd aufzuhören, und war froh, als die Unterhaltung sich dem mäßigen Stand der amerikanischen Medizin zuwandte und der Klage darüber, daß die auf Privatversicherungsbasis betriebenen Kliniken die wirtschaftlichen Grundlagen der ärztlichen Privatpraxis unterhöhlten. Beim Gedanken an die Pelze und Juwelen konnte sich Marissa des Eindrucks nicht erwehren, daß zumindest die hier Anwesenden so schlimm davon nicht betroffen sein könnten.
»Wie sieht’s denn beim Seuchenkontrollzentrum aus?« fragte Dr. Hayward über den Tisch hinüber Cyrill Dubchek. »Mußten Sie Budgetkürzungen hinnehmen?«
Dubchek lächelte zynisch, und sein Lächeln verursachte Falten in seinen Wangen. »Jedes Jahr müssen wir uns mit dem Amt für Haushalt und Verwaltung und unserem eigenen Bewilligungskomitee herumschlagen. Man hat uns aufgrund von Etatkürzungen fünfhundert Planstellen gestrichen.«
Dr. Jackson räusperte sich: »Was wäre eigentlich, wenn es zu einer Grippewelle wie damals in den Jahren 1917/18käme beziehungsweise einer vergleichbaren Pandemie? Nehmen wir einmal an, Ihre Abteilung müßte sich darum kümmern – haben Sie für einen derartigen Fall überhaupt das notwendige Personal?«
Cyrill Dubchek zuckte die Schultern. »Das hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Falls der Erreger seine Oberflächenantigene nicht verändert und wir ihn rasch in Gewebekulturen züchten können, könnten wir relativ rasch einen Impfstoff dagegen entwickeln. Wie rasch – da bin ich auch nicht sicher. Tad, was meinen Sie?«
»Einen Monat ungefähr würden wir brauchen«, sagte Tad, »wenn wir Glück haben. Mehr Zeit brauchten wir, um eine ausreichend große Menge für eine eindeutige Variante zu haben.«
»Das erinnert mich irgendwie an das Schweinepestfiasko vor ein paar Jahren«, warf Dr. Hayward ein.
»Das war aber nicht ein Versagen des CDC«, wehrte Dubchek ab. »Über den in Fort Dix aufgetretenen Erreger gab es keine Zweifel. Warum er sich nicht ausbreitete, weiß kein Mensch.«
Marissa fühlte eine Hand auf ihrer Schulter. Als sie sich umdrehte, blickte sie in das Gesicht eines der schwarzgekleideten Serviermädchen.
»Dr. Blumenthal?« fragte das Mädchen flüsternd.
»Ja.«
»Ein Telefongespräch für Sie!«
Marissa blickte zum anderen Ende des Tisches hinüber auf Ralph, doch der war eifrig ins Gespräch mit Mrs. Jackson vertieft. Sie entschuldigte sich kurz und folgte dem Mädchen in die Küche. Dann dämmerte es ihr, und sie fühlte einen Anflug von Furcht, wie damals, als sie zum ersten Mal nachts gerufen wurde während ihrer Zeit am Krankenhaus: Das mußte das Seuchenkontrollzentrum sein. Immerhin hatte sie Rufbereitschaft und hatte pflichtbewußt Ralph Hempstons Nummer hinterlassen. Niemand sonst wußte, daß sie hier war.
»Dr. Blumenthal?« fragte die Telefonistin vom CDC, als Marissa den Hörer abnahm, und stellte dann das Gespräch zum diensthabenden Beamten durch.
»Meinen Glückwunsch«, sagte der fröhlich, »wir bekamen gerade ein Hilfeersuchen wegen möglicher Seuchengefahr. Der kalifornische Staatsbeauftragte für Seuchenfragen war am Apparat und bat um unsere Unterstützung wegen eines in Los Angeles aufgetretenen Falls. Es geht um den Ausbruch einer unbekannten, aber
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