Virus
Burschen hier unten? Wollen Sie ihn sehen?«
»Ich bin schon unterwegs«, antwortete Marissa.
Auf dem Weg in die Notaufnahme konnte sie den Gedanken nicht abschütteln, daß hier der Ausbruch einer echten Epidemie drohe. Was den Labortechniker betraf, so gab es zwei Möglichkeiten, die beide gleich unangenehm waren: Die eine war, daß der Mann sich die Krankheit auf dieselbe Weise zugezogen hatte wie die anderen Patienten, das heißt durch eine aktive Erregerquelle des tödlichen Virus innerhalb der Richter-Klinik; die andere und nach Marissas Einschätzung wahrscheinlichere war die, daß er sich die Krankheit durch den Umgang mit infiziertem Material von den bisherigen Fällen zugezogen hatte.
Das Notaufnahmepersonal hatte den neuen Patienten in einem Zimmer für Psychiatriefälle untergebracht, und es hing ein Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht stören!« an der Tür. Marissa sah sich das Patientenblatt des Mitarbeiters an. Er hieß Alan Moyers, war 24 Jahre alt, und seine derzeitige Temperatur lag bei 39,8. Nachdem sie sich wieder die komplette sterile Schutzkleidung übergestreift hatte, betrat Marissa das kleine Krankenzimmer. Der Patient schaute sie mit glasigen Augen an.
»Ich hörte, daß es Ihnen nicht sonderlich gutgeht«, sagte Marissa.
»Ich fühl’ mich, als wär’ ich von einem Lastwagen überfahren worden!« antwortete Alan Moyers. »So mies ist es mir noch nie gegangen, nicht einmal voriges Jahr, als ich eine schwere Grippe erwischt hatte.«
»Womit ging es denn los?« fragte Marissa.
»Mit diesen Kopfschmerzen«, erklärte Alan Moyers. Er klopfte mit den Fingern gegen die Schläfen: »Hier genau tut es mir weh. Es ist scheußlich. Können Sie mir nicht irgendwas dagegen geben?«
»Was ist mit Schüttelfrost?«
»Ja, nachdem es mit den Kopfschmerzen losgegangen war, hatte ich auch immer wieder mal einen Anfall davon.«
»Ist Ihnen im Laufe der letzten Woche oder auch davor irgend etwas Ungewöhnliches zugestoßen?«
»In welcher Art?« fragte der junge Mann und schloß die Augen. »Einen kleinen Lottogewinn habe ich gemacht, das war alles.«
»Ich meine eigentlich eher bei Ihrer Arbeit im Labor. Sind Sie zum Beispiel von irgendwelchen Tieren gebissen worden?«
»Nichts dergleichen – ich habe mit Tieren überhaupt nichts zu tun. Was fehlt mir denn nun eigentlich?«
»Etwas anderes – kennen Sie Dr. Richter?«
»Aber sicher, jeder kennt hier Dr. Richter. Ach, da fällt mir gerade etwas ein: Ich habe mich an einer Kanüle mit zur Untersuchung abgenommenem Blut gestochen. Das ist mir noch nie passiert.«
»Können Sie sich noch an den Namen erinnern, der auf der Kanüle stand?«
»Nein – alles, was ich weiß, ist, daß der Bursche kein AIDS hatte. Darüber habe ich mir Gedanken gemacht und deswegen das Untersuchungsergebnis daraufhin angeschaut.«
»Was hatte er denn dann?«
»Kann ich nicht sagen – mir ging es nur um AIDS. Und wenn es sich um AIDS handelt, dann steht dort eben auch AIDS. Aber ich habe doch nicht AIDS – oder?«
»Nein, Alan, AIDS haben Sie nicht«, sagte Marissa.
»Na, Gott sei Dank«, erwiderte er. »So ein bißchen war ich doch in Panik geraten.«
Marissa ging auf die Suche nach Dr. Navarre, doch der mußte sich um einen gerade eingelieferten Patienten mit Herzstillstand kümmern. Marissa bat die Schwester, ihm auszurichten, daß sie jetzt wieder im fünften Stock sei. Während sie auf den Aufzug zuging, ordnete sie ihre Gedanken für das bevorstehende Telefongespräch mit Dr. Dubchek. »Entschuldigen Sie bitte!«
Marissa fühlte eine Hand auf ihrem Arm und stand, als sie sich umwandte, einem stämmigen, bärtigen Mann mit einer dünnrandigen Brille gegenüber. »Sind Sie Frau Dr. Blumenthal vom Seuchenkontrollzentrum?« fragte er.
Verblüfft darüber, daß sie erkannt worden war, nickte Marissa. Dadurch, daß er sich zwischen sie und den Aufzug schob, hinderte der Mann Marissa am Einsteigen. »Ich bin Clarence Herns von der Los Angeles Times. Meine Frau macht hier Nachtdienst auf der Intensivstation. Sie sagte mir, daß Sie gekommen seien, um sich Dr. Richter anzuschauen. Was fehlt denn dem Mann?«
»Das kann im Augenblick noch niemand genau sagen«, antwortete Marissa.
»Ist es ernst?«
»Diese Frage wird Ihnen Ihre Frau sicher genausogut beantworten können wie ich.«
»Sie sagt, der Mann liege im Sterben, und Sie hätten sechs weitere Fälle, darunter eine medizinisch-technische Assistentin aus der Registratur. Das sieht mir doch ganz nach
Weitere Kostenlose Bücher