Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
wenn sie sie erst hatten, war sie schon so gut wie tot – und mit ihr alle, denen sie ihre Geschichte anvertraut hatte.
Kaitlyn hatte nicht den geringsten Zweifel, dass Mr.
Zetes Mittel und Wege finden würde, Menschen umbringen zu lassen. Er hatte Kontakte. Er hatte Kunden. Er würde eine Möglichkeit finden.
Als sie die anderen ansah, merkte sie, dass sie zu derselben Schlussfolgerung gelangt waren. Sie spürte ihr Entsetzen.
»Aber … wo gehen wir dann hin?«, fragte Lewis krächzend.
»Wir müssen ihnen das Handwerk legen, nicht nur Mr. Zetes und Joyce, sondern auch allen anderen, die ihre Finger in der Sache haben. Es muss noch andere geben, wie diese Richterin. Wir müssen dem ganzen Spuk ein Ende bereiten.«
Kaitlyn blieb die Luft weg. Sie sah Rob entgeistert an. Sie war gedanklich gerade mal so weit, dass sie sich und ihre Freunde in Sicherheit bringen wollte, und das war schon schwierig genug.
»Wenn wir sie nicht aufhalten«, sagte Rob, drehte sich um und sah ihr in die Augen, »dann werden sie es wieder tun. Mit einer anderen Gruppe Jugendlicher.«
Rob zählte auf sie. Er vertraute ihr. Und natürlich hatte er recht.
»Das stimmt«, sagte Kaitlyn leise. »Das dürfen wir nicht zulassen.«
»Der Meinung bin ich auch«, sagte Anna.
Es folgte eine kurze Pause, ehe Lewis sagte: »Ich bin dabei.«
Sie sahen alle Gabriel an.
»Ich habe gar kein Zuhause«, sagte er spöttisch. »Mir bleibt nur die Gefängniszelle ….«
»Dann komm doch mit«, sagte Rob.
»Ihr wisst ja nicht einmal, wo ihr hinwollt.«
»Ich vielleicht schon«, sagte Kaitlyn.
Die anderen sahen sie überrascht an.
»Es ist nur so eine Idee«, sagte sie. »Ich weiß nicht einmal genau, warum sie mir in den Kopf gekommen ist … aber wisst ihr noch, der Traum, in dem wir alle zusammen auf dieser Halbinsel am Meer waren?«
Die anderen nickten.
»Also, es könnte doch sein, dass es den Ort in dem Traum wirklich gibt? Wenn ich darüber nachdenke, dann habe ich das deutliche Gefühl, dass es so ist. Und ihr?«
Die anderen sahen sie zweifelnd an, bis auf Anna, die ein nachdenkliches Gesicht machte.
»Wisst ihr«, sagte sie, »ich hatte dasselbe Gefühl, als ich dort war — im Traum, meine ich. Der Strand fühlte sich echt an. Er erinnerte mich an die Strände im Norden, dort, wo ich herkomme. Er kam mir fast vertraut vor. Und das weiße Haus …«
»Warte«, sagte Kaitlyn. »Das Haus. Das weiße Haus.« Ihr schwirrte der Kopf. Sie hatte das Haus schon einmal gesehen. Es war eines der Bilder am Nachmittag — war es wirklich erst an diesem Nachmittag
gewesen? –, als Joyce sie mit dem Kristallstückchen auf der Stirn getestet hatte.
Sie hatte das Bild nicht gezeichnet, denn es war blitzartig wieder weg gewesen. Doch jetzt war sie sich plötzlich ziemlich sicher, dass sie es sich ins Gedächtnis rufen konnte.
Denk nicht nach – zeichne. Zeichne es in deinem Innern. Lass deinem Geist freien Lauf.
Ob es nun der jüngste Kontakt mit dem Kristall war oder schlichte Verzweiflung — jedenfalls begann sie innerlich zu zeichnen, mit leichten, fließenden Strichen. Kräftigen, sauberen Strichen. Sie musste nicht einmal nachdenken, welche Farben sie verwendete. Sie tauchten einfach vor ihrem inneren Auge auf, fügten sich zu einem Bild zusammen, das innerhalb weniger Herzschläge fertig war.
Ein weißes Haus, ja. Mit roten Rosen über der Haustür. Ein einsames Haus, schaurig schön. Und hinter dem Fenster ein Gesicht — ein dunkles Gesicht mit leicht schräg stehenden Augen und sanft gewelltem braunem Haar.
Der Mann, der auf sie losgegangen war. Aber hatte er das wirklich getan? Er hatte sie gepackt und versucht, mit ihr zu reden, als sie am Flughafen auf Joyce wartete. Auch hinter dem Institut hatte er sie nur festgehalten, und sie hatte ihn geschlagen. Da hatte er gesagt, sie sei leichtsinnig und denke nicht nach.
Jetzt dachte sie nach. Wer es auch war – er war in ihrem Traum in dem Haus gewesen. Und er hatte ihr ein Bild von einem Rosengarten gezeigt, mit einem großen Kristall als Brunnenfigur.
Damals hatte sie den Kristall nicht erkannt. Doch jetzt, nachdem sie das große Gebilde, das monströse Ding gesehen hatte, das Mr. Zetes besaß, fiel es ihr wieder ein.
Der Kristall im Rosengarten hatte nicht bösartig ausgesehen, er war sauber und klar gewesen, ohne die monströsen Auswüchse. Er hatte … rein gewirkt.
Aber wo führte das alles hin? Kaitlyn wusste es auch nicht. Dennoch holte sie einmal tief Luft und versuchte,
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