Vogelfrei
für die Highland Games, die heute im Moss-Wright-Park stattfinden sollten.
Ihm fiel auf, dass an dem äußeren Fensterbrett die Farbe abblätterte, mit den Fingern schnippte er ein loses Fitzelchen fort. Da ihm das Haus gehörte, würde er wohl oder übel selbst zu Pinsel und Farbe greifen müssen - eine Arbeit, die er verabscheute. Sein Häuschen lag zwar auf der »falschen« Seite des Creeks, zwischen einem Secondhandshop und einem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus, dennoch fand er, dass er besser dran war als seine wohlhabenderen Nachbarn auf der anderen Seite -dort, wo auch seine Eltern wohnten. Von seinem Schlafzimmer aus bot sich ihm nämlich ein atemberaubender Blick auf prächtige Villen, sorgsam gepflegte Rasenflächen und lange Baumreihen, deren Blätter zu dieser Jahreszeit ein leuchtendes orange-rot-gelbes Farbenmeer bildeten. Die feinen Pinkel von drüben dagegen mussten sich mit dem Anblick seiner ... Behausung abfinden. Eine baufällige Holztreppe führte an der ansonsten kahlen Rückwand des Gebäudes zu seinem Apartment empor, darunter befand sich sein Studio. Auf dem Uferstück hinter dem Haus wuchsen lediglich Fliederbüsche und eine junge Weide, unter der sein auf zwei Holzblöcken aufgebocktes Ruderboot lag. Zwar hatte die Stadt eine Verordnung erlassen, die das längerfristige Abstellen von Wohnwagen und Ähnlichem auf öffentlichen Flächen untersagte, Boote jedoch wurden stillschweigend geduldet.
Dylan reckte sich, gähnte herzhaft und massierte seine Kopfhaut, um endgültig wach zu werden, dann verschwand er im Bad, weil seine Blase zu platzen drohte. Auf dem Rückweg griff er sich ein Handtuch von dem Regal hinter der Tür, warf es sich über die Schulter und ging auf den Balkon zu. Wieder musste er gähnen und schüttelte sich kurz.
In der Küchenecke neben der Hintertür blieb er stehen, um sich einen Apfel aus dem Kühlschrank zu holen. In diesem Moment klingelte das an der Wand befestigte Telefon, er nahm den Hörer ab und biss kräftig in den Apfel, ehe er sich meldete. »Hallo.«
»Dylan?«
»Ach, du bist's, Mom.« Dylan hielt die Muschel vorsorglich ein Stück von seinem Gesicht weg und kaute hastig, um einen Vortrag über gute Manieren und Sprechen mit vollem Mund zu vermeiden.
»Wie geht es dir, Herzchen?«
Früher einmal hatte er sich über ihre albernen Kosenamen schwarz geärgert, aber mittlerweile störte er sich nicht mehr daran. Rasch schluckte er den letzten Bissen hinunter. »Ganz gut.«
»Und was macht das reizende junge Mädchen, mit dem du zusammen bist, diese Ginny?«
»Der geht's auch gut.« Dylan verzog das Gesicht und polkte ein Stück Apfelschale aus seinen Zähnen.
»Versteht ihr zwei euch denn immer noch so gut? Ist sie inzwischen bei dir eingezogen?« Seine Mutter, früher eine überzeugte Anhängerin der Hippiebewegung, die nicht nur das Woodstock-Festival besucht hatte, sondern auch noch behauptete, ihr Sohn sei dort gezeugt worden, vertrat die Ansicht, ein Paar müsse vor der Hochzeit erst einmal eine Zeit lang zusammenleben. Leider war sie aber auch gleichzeitig konservativ genug, um die Hochzeit als logische Folge besagten Zusammenlebens zu betrachten. Anspielungen dieser Art hatte Dylan schon öfter zu hören bekommen, trotzdem dachte er gar nicht daran, in der nächsten Zeit zu heiraten, auch wenn Ginny noch so »reizend« war.
Leise Ungeduld keimte in ihm auf, und er unterdrückte ein unwilliges Aufstöhnen. »Nein, Mom, sie wohnt noch nicht bei mir.«
Jemand klopfte an die Hintertür. Dylan schob den billigen Baumwollvorhang ein Stück zur Seite und spähte aus dem Fenster über der Spüle. Ginny. Wenn man vom Teufel spricht, dachte er grinsend. Sie lehnte sich gegen das Geländer und wartete darauf, dass er ihr die Tür öffnete. Allerhöchste Zeit, seine Mutter von dem heiklen Thema abzubringen. Er hatte keine Lust, dass Ginny auch noch auf dumme Gedanken kam. Sie würde nicht bei ihm einziehen, und damit basta.
Betont fröhlich fragte er: »Na, Mom, was hast du denn an diesem schönen Morgen auf dem Herzen?«, dann klemmte er sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter, schlang sich das Handtuch um die Hüften und machte Ginny die Tür auf. Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss, trat dann auf den Balkon hinaus und hockte sich auf das niedrige Geländer. Dylan runzelte die Stirn und schüttelte mahnend den Kopf, woraufhin sie seufzte, schmollend die Lippen verzog und hereinkam, um sich auf der Sofalehne niederzulassen. Dylan musste lächeln,
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