Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
würde ich meine Gedanken einem Tagebuch offenbaren, der heutige Eintrag beginnen. Dann würde ich dem Tagebuch von der kleinen Trauer zwischendurch erzählen, und es würde stumm meine Tinte in sich aufsaugen. Des Weiteren würde ich dem Tagebuch von den Menschen um mich und meiner uneffektiven Sehnsucht berichten, und ich würde ihm von Kindheitserinnerungen und von Zukunftsängsten und von allem, was dazwischen stattfindet, kundtun. Ich würde ihm von meiner Orientierungslosigkeit erzählen, von diesem Gefühl mitten im Leben zu stehen und nicht mehr über irgendeine Richtung Bescheid zu wissen, weder die, aus der man kam, noch die, in die man sich zukünftig bewegen mag. Das Tagebuch würde einfach so daliegen und sich diesen ganzen Text zunächst gefallen lassen.
Ich fühle mich wie unangenehmer Schall, der aus einer kleinen Bar dringt, in der Free Jazz probiert wird, und zwar mit viel zu viel gespielten Tönen in viel zu wenig Zeit. Free Jazz klingt ja eigentlich immer, als ob er gerade geübt wird; ja, mein Gefühl entspricht einer Free-Jazz-Probe. Das würde ich dem Tagebuch alles erzählen, und die Blätter des Buches würden sich langsam füllen mit eigenartigen Gedankenformulierungen der Gegenwart eines Menschen, der ich zu sein scheine. Identitätslosigkeit. Irgendwie ist dies eine Zeit, die Entscheidungen verlangt, aber alle Entscheidungen, die ich treffen kann, fühlen sich nur falsch an.
Das Tagebuch würde schweigen, einfach schweigen, alles annehmen und es bei Bedarf wieder preisgeben. Seitenlang Gedankenabfall. Dann würde das Tagebuch zu seinen Tagebuchkollegen gehen, wenn ich grad nicht in Sichtweite bin, und sie würden über mich lachen, weil ich nichts auf die Reihe kriege. Aber ich führe kein Tagebuch, ich habe ja nicht einmal Worte für das, was ich bin. Außerdem habe ich keine Lust von den Büchern, die ich schreibe, ausgelacht zu werden.
Ich habe wieder mal das Gefühl, ein verschwendetes Leben zu leben, ein Leben, das viel lauter, bunter, fühlbarer sein könnte. Ein Gefühl wie Giraffenkotze, ein viel zu langer Weg zu einem doch misanthropischen Endergebnis.
Ich halte eine Tasse Kaffee in der Hand und stehe lediglich mit einer Unterhose bekleidet auf dem Balkon. Wind umspielt wie zärtliche Hände meinen Körper. Drumherum hält sich ein Frühling auf, einer mit zwitschernden Vögeln, zimperlichen Zwischentönen und einer vollkommenen Unperfektheit. Franz Kafka hat einmal geschrieben: «Das Leben ist unerträglich, ein anderes unerreichbar.» Das trifft meinen Standpunkt ziemlich gut. Das, was man nicht ertragen konnte, lag da draußen, zu allem anderen hatte man keinen konkreten Weg.
Es war Frühling, und ich viel zu beschäftigt mit mir selbst. Ich wartete und wusste nicht auf was. Vielleicht darauf, dass meine Mutter endlich starb? Oder auf einen erfüllenden Job mit der Perspektive, da jemanden darzustellen, den man selbst mochte? Oder auf eine Liebe, die mein Herz anfüllte, bis es zu platzen drohte? Da musste doch irgendwas sein, warum guckten den alle da hin ...?
Der Kaffee war lauwarm und ich lauwach. Und ich stand da und schaute und leichter Wind strich mir über den nackten Bauch, und dann juckte es am Geschlecht und ich kratzte mich, und das war gut, es hinterließ das Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben.
Gut, dass ich kein Tagebuch schreibe, dachte ich noch, während ich mich da kratzte, wo es immer einmal weniger juckte, als man kratzte. Ein Tagebuch, das ist doch was für Leute, die sich an alles erinnern mögen, deren Leben so dünn ist, dass dieser Effekt nicht ganz automatisch eintritt. Obwohl ich glaube, dass mein Leben so ist, so dünn. So unauffällig und schwach. Ich wäre so ein typischer Tagebuchschreiber, ein mit allerlei Weltschmerz verseuchtes Arbeiterkind, das versucht, Welt und Wort in Einklang zu bringen. Zustandsbeschreibungen zu liefern, ja, das könnte ich, aber ich machte es nicht, weil ich diesen Zustand nicht wahrhaben wollte, weil der Zustand noch weniger Ich war als ich selbst. Aber ich weigerte mich, Tagebuch zu schreiben, ich wäre nur einer mehr in der Statistik der nicht stattfindenden Menschen, die mehr innen leben als außen sterben.
Heute wehte eine leichte Brise durch die sonnengetränkte Luft, man konnte nicht sagen, ob es warm oder kalt war, es war irgendwo dazwischen; ein Wetter, das sich, wie ich, nicht wirklich entscheiden konnte. Aber was waren Entscheidungen überhaupt wert in dieser viel zu schnellen Welt. Kaum hatte man
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