Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
unheimlichen Größe erfüllt, die aus der Akzeptanz des Vergehens und dem absoluten Gewicht des Lebens gemacht war. Ich hatte nie gedacht, dass mein eigenes Denken trotz innerer Zerbrochenheit einmal auf Göttergröße anschwellen könnte.
Franks Sohn saß mir irgendwann gegenüber, saugte aus einem Strohhalm Orangenlimonade in sich hinein und hatte einen sichtlich roten Kopf vom Herumtoben. Er lachte schief und sah mich an und gleichzeitig an mir vorbei, was daran lag, dass er ein wenig schielte. Seine Hyperaktivität erinnerte mich an seinen Vater, meinen Cousin, zu dem mein Verhältnis seit unserer Kindheit deutlich abgekühlt war. Da war nur noch ein blasses Bild, das als Erinnerung zurückblieb, vergilbt und zerknittert. So etwas passierte halt im Taumel der Jahre, jeder von uns ging seine Wege und Umwege, um aber letztendlich hier an irgendwelchen Gräbern wieder schicksalsbedingt zusammenzutreffen.
Jetzt saß sein Sohn hier vor mir, und ich fragte ihn nach seinem Namen. Ich fragte ihn ohne einen bestimmten Grund, einfach nur, um mit ihm zu sprechen. «Justin heiß ich», antwortete er schnell, um sich dann wieder der Orangenlimonade zu widmen. Jetzt fiel mir auch wieder ein, dass er so hieß, meine Mutter hatte mir damals, als dieser vor mir hockende Justin geboren wurde, seinen Namen verraten, und ich weiß noch, dass sie auch eine Portion Enttäuschung in ihren Blick gelegt hatte, weil nicht ich, sondern mein Cousin sich der Fortpflanzung gewidmet hatte. Ich war zu der Zeit (und ich denke fast, ich bin es immer noch), unfähig mit mir selbst klarzukommen, fühlte mich wie ein Stöckchen auf dem tosenden Ozean, der in seiner Wildheit unberechenbar war und mich an Orte spülte, die ich als meine Standorte anerkannte, waren sie auch noch zu zufällig gewählt. Justin fragte mich: «Bist du traurig, dass deine Mama tot ist?» So viel Empathie hatte ich dem kleinen, leicht zerrüttet wirkenden Jungen gar nicht zugetraut. «Ja», sagte ich, und ich fühlte, wie damit ein Stück Trauer von mir abbrach, sich aber nicht in Gleichgültigkeit, sondern in eine ziemlich seltene Mischung aus skurriler Freude und der Akzeptanz der Dinge verwandelte. Das Gespräch war erfrischend, obwohl sich der Junge kaum konzentrieren konnte; er sah sich zu seinen Eltern um, schüttelte seine Limonade. «Weißt du», begann er wieder ein zaghaftes, nervöses Sprechen und sah an mir vorbei, «weißt du, dass ich gesehen habe, wie du ein Mädchen geküsst hast, vorhin.» Ich musste lachen, laut sogar, und auch der kleine Justin lachte. «Erzähl das bloß keinem», flüsterte ich ihm zu und hob meinen Zeigefinger an die Lippen, und auch Justin tat es mir gleich und guckte verschwörerisch. «Magst du Mädchen?», fragte er mich, um mich dann an seiner eigenen Empfindung teilhaben zu lassen: «Also, ich find Mädchen ja doof.» Er kratzte sich am Ohr. «Ich mag nur ein Mädchen», flüsterte ich ihm zu, « die, die du eben gesehen hast. Aber niemandem erzählen, ok?» Justin nickte und lächelte mich schief an. Es fühlte sich gut und richtig an, in dieser Weise über Caro zu sprechen. «Ich hab nur ’nen besten Freund», erzählte er von einer verwischenden Geste unterstützt, «Claas heißt der und der kann geil Fußball.» «Cool, so einen Claas zu haben ist bestimmt eine gute Sache. Einen besten Freund, den hab ich auch», ergänzte ich, «aber der ist leider weggefahren.» «Weit weg?», wollte Justin wissen. «Nein, nicht wirklich weit, der ist jederzeit erreichbar, und es tut gut, das zu wissen.» Ich dachte an Kai und empfand unendliche Dankbarkeit für seine Existenz. «Ich weiß auch, wo Claas wohnt», sagte Justin dann noch und schüttelte seine leere Limonadenflasche und guckte eine Mischung aus Rührseligkeit und Ungeduld in den Raum und machte Anstalten aufzustehen. Er lächelte mich an und dieses Lächeln wirkte wie das Aufschließen einer Tür, hinter der man eine Weile gefangen war und die jetzt einfach so geöffnet wurde. Freiheit, so wusste ich, wurde zuallererst im Kopf produziert. Mein Herz beschleunigte zum ersten Mal an diesem Tag seinen Takt, allein dieses unbeholfen wirkenden Lächelns wegen.
Ich sah dem leicht behinderten Jungen nach, als er wieder aufstand und sich in seiner hopsenden Gangart davonmachte. Meine Trauer war ihm ja eigentlich egal, vielleicht wusste er auch noch gar nicht, was das genau war und was die mit einem machen konnte, so eine Trauer. Der Junge sprang auf und tobte weiter, rannte seiner
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